10 Jahre „Schule im Aufbruch“ in Österreich

Seit zehn Jahren vernetzt „Schule im Aufbruch“ im Bildungsbereich engagierte Menschen, die ihre Schulen und somit letztlich das Bildungssystem weiterentwickeln wollen. Seit den ersten Treffen vor zehn Jahren – sie fanden im „Café Westend“ in Wien statt – ist „Schule im Aufbruch“ stetig gewachsen, und aktuell nehmen Vertreter und Vertreterinnen von über 600 Schulen und über 5000 Pädagogen und Pädagoginnen in Österreich an den verschiedensten Aktivitäten dieses Netzwerkes teil.

Martin Ruckensteiner und Ingrid Teufel sind seit den Anfängen Teil des Teams von „Schule im Aufbruch“. Rainer Wisiak hat beide zu den vergangenen zehn Jahren wie auch die weiteren Pläne befragt – im „Café Westend“ in Wien.

Lieber Herr Ruckensteiner, liebe Frau Teufel, wo kann man die Anfänge von „Schule im Aufbruch“ verorten?

M.R.: Es begann schon vor über zehn Jahren in Deutschland und eigentlich ist Angela Merkel schuld daran, dass es „Schule im Aufbruch“ gibt 🙂  Sie hatte damals sechs Bildungs-Experten und -Expertinnen eingeladen, um darüber nachzudenken, wie die Zukunft des Lernens aussehen könnte – und unter den Experten und Expertinnen waren auch Gerald Hüther und Margret Rasfeld. Bei der Übergabe des Berichts von ungefähr 600 Seiten wurde den beiden – so hat Gerald Hüther es mir zumindest erzählt – plötzlich klar: So – „top – down“ – gelingt eine Transformation von Schulen sicherlich nicht, sondern nur, wenn man all das „von unten“ gemeinsam mit den an den Schulstandorten involvierten Personen entwickelt. In diesem Sinne wurde dann „Schule im Aufbruch“ in Deutschland gegründet.

I.T.: Und ein wenig später hat dann eine kleine Gruppe in Österreich versucht, diese Idee auch hier umzusetzen. Anfangs war es nur ein kleiner Kreis von Menschen, der sich ab Herbst 2012 einmal monatlich hier im „Café Westend“ oder in meiner damaligen Schule, der „Lerngemeinschaft 15“, getroffen hat. Die Gruppe ist aber bald auf 50 Personen angewachsen. Aus diesem Personenkreis heraus hat sich dann ein „Kernteam“ entwickelt, das sind zur Zeit acht Personen, die auch in unterschiedlichsten anderen Initiativen engagiert sind, wie beispielsweise Erwin Greiner (Sprecher von „Neustart Schule“), Martina Piok (Leiterin des Impulszentrums für Cooperatives Offenes Lernen – COOL), Karl Dwulit (Obmann des Landeselternverbands Wien) oder Markus Haider (Mit-Begründer von OPENschool), also eine sehr feine Gruppe mit spannenden Menschen. Es hat dann bis Februar 2014 gebraucht, bis unser erster „Schule im Aufbruch-Tag“ in Wien stattfinden konnte.

Wie kann eine Schule, die Interesse bekundet, Teil oder Mitglied von „Schule im Aufbruch“ werden?

M.R.: Man kann gar nicht Mitglied werden. Wir gehen da ein bisschen einen unorthodoxen Weg. „Schule im Aufbruch“ soll ein offenes und loses Netzwerk sein – von Pädagogen und Pädagoginnen, Schulleitern und Schulleiterinnen oder Eltern, die ihre Schulen gerne hinsichtlich der Stärken ihrer Kinder weiterentwickeln wollen. Und diese Menschen bringen wir zusammen. Wir schaffen also Gelegenheiten, damit sie sich kennenlernen und wechselseitig inspirieren und ermutigen können. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Formate: Schule im Aufbruch-Tage, Webinare, Kongresse – online oder in Präsenz, Vorträge oder Veröffentlichungen, einfach ganz viele Veranstaltungen, wo du Kraft tanken und dir frische und neue Ideen holen kannst.

I.T.: Mitglied wird man nicht durch eine Mitgliedschaft, sondern man tritt dieser Art von Lerngemeinschaft durch eine „Schule im Aufbruch“-Haltung bei. Eine Schule entscheidet selbst, ob sie bei „Schule im Aufbruch“ mit dabei sein mag, ob sie sich als eine Schule im Aufbruch fühlt. Es geht um eine wertschätzende, „aufrichtende“ Haltung, um eine Kultur der Potenzialentfaltung, damit sich alle individuellen Stärken und Interessen von jungen Menschen, aber auch die der Erwachsenen, die an diesen Schulen arbeiten, entfalten können.

Auf Ihrer Website findet sich auch eine Landkarte von Österreich, auf welcher diese Schulen eingetragen sind.

M.R.: Ja, auf unserer Online-Landkarte kann man diese – wie wir sie nennen – „Inspirations-Orte“ finden, die schon so eine Lernkultur der Potenzialentfaltung leben. Und all diese Schulen – und das finde ich das Phänomenale – machen das nicht, weil sie sich dort selbst präsentieren wollen oder um ausgezeichnet zu werden, sondern sie beteiligen sich im Sinne der Weiterentwicklung unserer Schullandschaft. Sie öffnen sich also nicht deshalb, um sich in den Vordergrund zu drängen, sondern um ihre Praktiken an Besucher:innen weitergeben zu können.

Klickt man auf dieser Landkarte auf eine Schule, dann öffnet sich ein kleines Fenster und es findet sich die Kontaktperson der gewünschten Schule – und die kann man dann direkt per Mail anschreiben. Alle Kontaktpersonen der Schulen auf unserer Online-Landkarte sind bereit, Anfragen zu beantworten und Besuche an ihren Schulen zu ermöglichen.

I.T.: Wichtig für meine Weiterentwicklung als lernende Lehrende war, dass ich Möglichkeiten hatte, andere Schulen zu besuchen – auch in anderen Ländern. Das öffnet Herz und Hirn. Es ist so inspirierend, zu sehen, welche Antworten andere Lehrende auf essenzielle Fragen finden, zum Beispiel: Wie können sich ALLE Kinder gut entwickeln? Wie können sie alle ihre persönlichen Stärken entdecken und entwickeln? Wie können alle ein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein entwickeln? Wie schaffen wir Möglichkeiten, damit alle aus sich heraus wachsen und über sich hinauswachsen können? Können alle Momente erleben, in denen sie so richtig in ihrem Element sind?  

Sehr schön ist ja, dass sich bei „Schule im Aufbruch“ – im Gegensatz zu vielen anderen Plattformen – sowohl öffentliche als auch private Schulen engagieren. Wie „finden“ Sie solche Schulen?

I.T.: Die Tipps kommen entweder aus unserem Netzwerk selbst aufgrund unserer Kontakte zu Pädagogischen Hochschulen, Schulleitern und Schulleiterinnen, Schulqualitäts-Managern und -Managerinnen oder sie kommen von Pädagogen und Pädagoginnen, die andere Schulen kennen und sagen: „Schaut´s euch doch einmal diese Schule an, die wäre auch ganz spannend!“ Wir nehmen dann Kontakt auf und fragen, ob sie überhaupt dabei sein wollen. Wenn sie mitmachen möchten, fahren Martin oder andere hin und schauen sich die Schule an – denn es kann ja sein, dass es sich von der Beschreibung her um die tollste Lernwerkstatt handelt, man aber drinnen nur Belehrung und Be- bzw. Abwertung vorfindet. Also die Vermarktung macht es nicht aus, sondern die innere Haltung der dort beteiligten Personen.

Nun kann es aber sein – aus welchen Gründen auch immer – , dass eine Schule ihr Konzept ändert und sich wieder von dem entfernt, was „Schule im Aufbruch“ unter Potenzialentfaltung versteht. Scheint sie dann weiterhin noch auf der Landkarte auf?

M.R.: Nein, denn genau so, wie es ein Aufnahme-Prozedere gibt, kann es sein, dass wir Schulen auch wieder von unserer Online-Landkarte herunternehmen – was auch schon geschehen ist. Grundsätzlich ist es aber erstaunlich und bemerkenswert, wie viele wunderbare Schulen es in Österreich schon gibt – da müsste man gar nicht immer nach Finnland schauen. Aber leider sind viele von ihnen kaum oder gar nicht bekannt und diesem Umstand will „Schule im Aufbruch“ entgegenwirken. Nicht zuletzt mit der Landkarte, mit welcher man von jedem Wohnort in Österreich aus innerhalb von 50 Kilometern eine interessante und spannende Schule findet.

Eine Frage noch zur Organisationsstruktur: Wie finanziert sich „Schule im Aufbruch“?

M.R.: Hinter „Schule im Aufbruch“ steht ein kleiner Verein mit nur vier Mitgliedern, sehr viel Arbeit geschieht auf ehrenamtlicher Basis. Es ist uns auch gelungen, auf einige Sponsoren zu treffen, die unsere Arbeit gut finden und wenn wir alle Stunden zusammenrechnen, die bezahlt sind, entspricht das zwei Vollzeit-Mitarbeiter:innen, die für „Schule im Aufbruch“ angestellt sind. Ich habe in den ersten Jahren ehrenamtlich mitgearbeitet und jetzt ist es mein Beruf – also Vollzeit. Und immer wieder reichen wir Förderanträge ein und manchmal erhalten wir dann auch einmalige Projektförderungen von Stiftungen, von der Stadt Wien oder vom Bildungsministerium.

I.T.: Ich bin nur ehrenamtlich mit dabei – und außerdem habe ich durch meine Pension ja schon das bedingungslose Grundeinkommen …

M.R.: … und außerdem: Vollzeit wäre bei dir ja nicht möglich, du engagierst dich ja noch in hundert anderen Initiativen 🙂

Es wäre spannend, jetzt all diese Initiativen zu nennen, doch zurück zu „Schule im Aufbruch“ – welches sind dort die aktuellen Projekte?

I.T.: Da wäre zum Beispiel das Lernformat „FREI DAY“ zu erwähnen, das – ursprünglich von Margret Rasfeld in Deutschland initiiert – nun auch bei uns in Österreich schon an über 30 Schulen gelebt wird. Schüler, Schülerinnen und Lehrende nehmen sich jede Woche vier Stunden Zeit und arbeiten in Klassen oder klassenübergreifend in Teams an – von Schülern und Schülerinnen ausgewählten – Zukunftsprojekten, die sich an den EU-Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) orientieren. Dazu haben Birgit Hippacher (HAK Lienz und PH Tirol) und ein Frauen-Power-Team vom Familien- und Elternverband Vorarlberg (Birgit Walch, Andrea Moosbrugger, Veronika Geiger) seit Jahren hervorragende Vorarbeit geleistet sowie eine wunderbare Website aufgebaut – und arbeiten unermüdlich weiter. 

M.R.: Wir haben ein Kooperationsprojekt mit der „Stiftung für Wirtschaftsbildung“ laufen, wo wir ungefähr 12 weitere Schulen bei der Einführung von „FREI DAY“ unterstützen können, das hat Anfang 2024 gestartet und läuft bis Mitte des nächsten Jahres. So ist es zum Beispiel auch möglich, schulexterne Experten oder Expertinnen zu den Projekten einzuladen, da es immer auch um ganz konkrete Gemeinschaftsprojekte vor Ort gehen soll, also auch um Projekte im Umfeld der Schule. Die Kinder und Jugendlichen gehen dann auch hinaus auf die Straßen oder zu den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen, um ihre selbstgewählten Projekte direkt in der Nachbarschaft und in der Gemeinde umzusetzen. Sie erwerben durch diese Projekte Kompetenzen, die sie für die Zukunft benötigen – sie lernen Kooperation, Kommunikation, leben Kreativität und entwickeln so Problemlösungsfähigkeiten, erlangen letztlich Handlungskompetenz und spüren: „Ich kann etwas bewegen!“

I.T.: 2023 kamen neue Lehrpläne heraus, die einen Fokus auf Kompetenzorientierung und fächerübergreifendes Lernen legen. FREI DAY erfüllt diese Anforderungen hervorragend. Alles, worüber wir gesprochen haben, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, Öffnung der Schule nach außen, Kreativität, Eingehen auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen, fächerübergreifende und überfachliche Kompetenzen wird eins zu eins gelebt.

M.R.: Und als zweiter und weiterer Schwerpunkt wäre dann noch das „Multi-Schulen-Entwicklungsprogramm“ zu nennen – ein Schulentwicklungsprogramm für mehrere Schulen einer Region. Dieses läuft über drei Jahre und Teams von Schulen entwickeln nicht nur den eigenen Standort weiter, sondern haben zum Beispiel die Möglichkeit, sich mit Teams von circa fünf bis neun anderen Schulen über deren Entwicklungsprozesse auszutauschen. Jede Schule arbeitet autonom am eigenen Thema, kann aber das Know-how von den anderen Schulen nutzen. An diesem Format nehmen derzeit über 70 Schulen gemeinsam mit sieben Pädagogischen Hochschulen in sieben Bundesländern mit Zustimmung und Unterstützung seitens des Ministeriums teil.

Findet man dieses Programm auf der Website von „Schule im Aufbruch“?

I.T.: Man findet es unter dem Punkt „Mitmachen“, es ist aber noch ein Pilotprojekt, deshalb haben wir diesbezüglich noch nicht viel Werbung gemacht.

Das klingt alles nach ganz schön viel Arbeit …

M.R.: Wir erfahren aber auch ganz viel Wertschätzung von allen Seiten. Wir bekamen zum Beispiel ein Email von einer Schulleiterin einer Volksschule, dass sie mit der Hilfe von „Schule im Aufbruch“ ihre Schule gut weiterentwickelt hätte. Wir kannten die Schule und die Schulleiterin gar nicht. Aber sie konnte durch unsere Arbeit andere Schulen kennenlernen und dadurch Ideen und Mut finden, sich selbst mit ihrem Team auf den Weg zu machen. Auch die Offenheit von Pädagogischen Hochschulen, Schulqualitäts-Managern und -Managerinnen für unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit freut uns natürlich.

Wir haben jetzt über vergangene und aktuelle Formate gesprochen. Wie sieht es mit den Plänen in weiterer Zukunft aus?

M.R.: Die noch „ungelegten Eier“?

So könnte man es auch nennen 🙂

M.R.: Verena Thoma und ich sind gerade dabei, ein Buch zum Thema „Schulentwicklung“ zu veröffentlichen: „Die Reise zur Schule der Zukunft“. Für dieses haben wir gemeinsam mit 31 Personen von 21 Schulen in Österreich über ihre Entwicklung gesprochen und sie gefragt: „Sagt´s mal, wie hat eure Reise im Hinblick auf Potenzialentfaltung eigentlich begonnen?“ … zum Beispiel in deiner Schule, Ingrid, der „Lerngemeinschaft 15“. Was war der Auslöser für dich? Was waren deine ersten Schritte? Weil dieser allererste Funke oft so entscheidend ist! Und dann in weiterer Folge natürlich die Frage: Wie kann man so eine Entwicklung vielleicht unterstützen? Welche Höhepunkte und welche Tiefschläge hast du erlebt und wie hast du solche gelöst?

I.T.: Auslöser zum Weiterlernen und Entwickeln waren bei mir immer „meine“ Kinder: Was brauchen sie, was kann ich tun, damit sie aufblühen können? Die, die traurig und entmutigt aus anderen Schulen kamen, lagen mir besonders am Herzen. Sie zu ermutigen und wieder aufblühen sehen zu dürfen, war für mich erfüllend und machte mich glücklich und dankbar.

Tiefschläge? Hm, die nahm ich sportlich als Herausforderungen. Eine kleine Herausforderung war es, loszulassen, als ich in Pension gegangen bin: Wie übergibt man ein Projekt oder eine Schule der nächsten Generation? Das war aber bei meinem großartigen Team eigentlich gar kein Problem. Sie machten in der gleichen Haltung weiter und entwickelten sich und die Lerngemeinschaft weiter.   

M.R.: Eine Schule aufzubauen und zu entwickeln ist für sich schon eine hohe Kunst, aber sie an die nächste Generation weiterzugeben – das ist dann überhaupt die Königsdisziplin.

I.T.: Ja, da müssen die Führungspersonen an den Schulen in den letzten Jahren ein bisschen loslassen und vielleicht auch nicht mehr so auf die „Details“ achten, sondern mehr auf die Schulkultur als Ganzes und die pädagogische Haltung an der Schule.

M.R.: Das ist sicherlich eine Charakteristik des österreichischen Schulsystems, dass die positiven Entwicklungen immer ganz stark von einzelnen Menschen abhängen – und wenn diese Menschen dann ihre Position wechseln oder in Pension gehen, dann ist es oft so, wie du gesagt hast: dann fällt diese begonnene Entwicklung in sich zusammen. Denn der Grundmodus, den wir vorfinden, ist einfach immer noch jener der Belehrung, der Bürokratie, und nicht so sehr der Modus aus der Zukunftsgestaltung heraus. Aber bleiben wir beim Positiven!

Dabei, dass bei „Schule im Aufbruch“ Pädagogen und Pädagoginnen an über 600 Schulen versuchen, neue Wege zu gehen …

M.R.: Und an die 5000 Pädagogen und Pädagoginnen, die zu unseren Tagen kommen, bei Webinaren mitmachen oder in unsere anderen Entwicklungstätigkeiten involviert sind – „im Aufbruch“ sind, wenn man das so sagen will. Und es gibt keinen Grund, weshalb Österreich nicht eines der besten Schulsysteme der Welt haben könnte – außer wir blockieren uns selbst 🙂

Gibt es noch ein „ungelegtes Ei“, das Erwähnung finden sollte?

M.R.: Ja, zum Abschluss noch eine schöne Ankündigung: Wir sind gemeinsam mit einigen Partnern in Planung eines Bildungskongresses, der vom 3. bis 5. Oktober 2025 im Bildungshaus Schloss Puchberg bei Wels stattfinden wird. Gerald Hüther und Margret Rasfeld haben schon zugesagt, bei vielen anderen spannenden Vortragenden haben wir angefragt. Wer Interesse daran hat, kann gerne unseren Newsletter abonnieren und erhält so die Einladung.Das wird sicherlich ein interessanter Kongress. Viel Glück bei der weiteren Planung und danke für das Gespräch!

Foto: Janina Wisiak