„Mich reizt Neues, ich will gestalten!“

Foto: David Meixner

Sonja Hammerschmid, zur Zeit des Interviews Bundesministerin für Bildung, beantwortete Rainer Wisiak für das Magazin „Freigeist“ Fragen zu aktuellen Entwicklungen die Bildungspolitik betreffend.

Frau Bundesministerin, Sie zierten erst kürzlich das Cover der Wiener Stadtzeitung „Falter“. Das Cover trug den Titel „Frau Bildungsreform?“ Fühlen Sie sich da geschmeichelt oder steckt da für Sie ein großer Auftrag dahinter?

Für mich ist das der Auftrag, in der Bildungsreform die nötigen Schritte anzugehen und umzusetzen. Es geht ja nicht um mich, sondern um das System „Schule“, um unsere Kinder und Jugendlichen, es geht dabei im Besonderen um die Zukunft unseres Landes – und das ist ein großer Auftrag, diese Zukunft zu gestalten und die entsprechenden Schritte und Maßnahmen zu setzen.

Der Titel war mit einem Fragezeichen versehen. Wie würden Sie dieses Fragezeichen interpretieren?

Zu der Zeit, als das Interview gemacht wurde, war noch nicht so klar, in welche Richtung es geht und in welcher Ausformung die Reformpakete kommen werden – ich glaube, auf das hat sich das Fragezeichen bezogen. Das Autonomiepaket zum Beispiel haben wir ja erst vorige Woche beschlossen. Zum Zeitpunkt des Interviews war es noch nicht bekannt.

Ich habe das Fragezeichen in die Richtung interpretiert: Bewegt sich die ganze Bildungsreform jetzt endlich? In Bezug auf die letzten zwei für die Bildung zuständigen Ministerinnen hatte man ja lange das Gefühl, es geht mit dem Koalitionspartner nur noch um einen Grabenkampf hinsichtlich des Themas „Gesamtschule – Ja oder Nein“. Ihren bisherigen Aussagen habe ich entnommen, dass Sie aus diesem Grabenkampf jetzt einmal ausgestiegen sind …

Genau, ich habe eine andere Strategie gewählt – definitiv! (lacht herzlich) Mir war es wichtig, jene Maßnahmen umzusetzen, bei denen ich das Gefühl habe, da habe ich eine gemeinsame Basis mit dem Koalitionspartner und diese Maßnahmen kommen ganz schnell bei den Schulen und bei den Kindern an – und natürlich auch bei den PädagogInnen, damit sie wieder das tun zu können, was sie am besten können: nämlich wirklich hervorragend zu unterrichten. Das war mir ein Anliegen, ihnen hier den Rahmen aufzumachen – und deshalb lagen meine Prioritäten eindeutig beim Ausbau der Ganztagsschule und auf dem Autonomie-Paket.

Genau, das waren die beiden großen Pakete, die Sie jetzt in Angriff genommen haben. Die Ganztagsschule ist ja, glaube ich, schon „auf Schiene“ und es gibt dafür einen Budgetplan bis 2025. Ist der schon beschlossen oder wird der erst beschlossen?

Wir haben mit dem Koalitionspartner zügig verhandelt und haben den Gesetzesentwurf in Begutachtung geschickt. Fest steht: wir werden 750 Millionen Euro für den Ausbau der Ganztagsschulen verwenden, das ist ein Schritt in Richtung mehr Chancengleichheit im Bildungssystem. Ein besonders wichtiger Punkt ist für mich, dass wir die Schulen im Sommer für Ferienbetreuung öffnen.

In einem Fernseh-Interview meinten Sie einmal auf ihre Person bezogen: „Mich reizt Neues, ich will gestalten!“ Wie groß sind die Gestaltungsspielräume, wenn der Koalitionspartner oft etwas anderes will, der Rechnungshof kritisiert, dass zuviel Geld in alte Strukturen fließt oder die OECD mit Prognosen, Trends wie Pisa oder Statistiken stresst?

Nun, Daten, Fakten und Zahlen sind für mich immer eine ganz wichtige Basis – ich komme ja aus der Wissenschaft und deshalb sind für mich solche Analysen, wie sie aus der OECD oder aus dem nationalen Bildungsbericht kommen, sehr wertvoll. Die sind für mich die Basis, um hier weiter zu gestalten und ich sehe das nicht als Einengung, ganz im Gegenteil: Ich habe einen klaren Befund und der Befund sagt klar, wo Österreich steht – und da sind zwei ganz große Themen drinnen:

Die Bildungsvererbung als ein Thema und als zweites Thema, dass wir im internationalen Vergleich in Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften große Risikogruppen haben und auf der anderen Seite kleine Spitzengruppen. Das sind ganz klare Befunde und an denen müssen wir jetzt arbeiten. Wir müssen Risikogruppen minimieren und Spitzengruppen im besten Falle verdoppeln, weil wir wissen, dass Deutschland oder Finnland in den Spitzengruppen einfach doppelt so viele hat. Das wäre das eine Ziel.

Die Bildungsvererbung ist über das ganztägige Schulpaket adressiert. Wir sind uns sicher, dass Chancengleichheit Realität wird, wenn Kinder aus sozial schwächeren Familien – wo die Nachhilfe zum Beispiel einfach nicht leistbar ist – den ganzen Tag in der Schule lernen, spielen und Hausübungen machen.

Was wären nun Maßnahmen, die, um Sie zu zitieren, „ganz schnell bei den Schulen und bei den Kindern ankommen“?

Wie gesagt, vor allem die zwei erwähnten Reformpakete: Mit der Autonomie übergeben wir den Schulstandorten und den Pädagoginnen und Pädagogen die Möglichkeit, Handlungsspielräume und Freiräume neu zu gestalten, Unterricht neu zu definieren, neu zu denken – und wir wollen ja im nächsten Schuljahr schon mit den ersten Schulen beginnen. Aus dem Ministerratsvortrag sehen Sie, dass das ein sehr umfangreiches Paket ist. Wir müssen noch viele Begleitmaßnahmen setzen, damit das Projekt wirklich gut gelingen kann, dennoch wollen wir mit dem nächsten Schuljahr beginnen – mit jenen Schulen, die Autonomie schon ein Stück weit „denken“ können und ausprobiert haben. Das sind unsere „Leuchtturmschulen“, die auch als Vorbild für jene Schulen dienen werden, die noch nicht genau wissen, wie sie das Thema angehen wollen.

Was schon geglückt ist, ist das Schulrechtspaket. Das ist im Juni im Parlament verabschiedet worden, ist seit September an den Schulen und betrifft vor allem den Übergang vom Kindergarten in die Volksschule und den Volksschulbereich selbst. Wesentliche Punkte der Schulautonomie wurden ebenfalls bereits in dieses Paket integriert: zum einen die jahrgangsübergreifende Klassenführung, die verstärkt und ermöglicht wird und auch gelebt werden soll. Zum anderen die alternative Leistungsbeschreibung bis zur dritten Klasse. Ein weiterer großer Punkt ist diese Übergabe des Portfolios vom Kindergarten zu den Volksschulen, damit schnell und treffsicher mit den Kindern gearbeitet werden kann, um sie möglichst gut und schnell auszubilden.

Bundeskanzler Kern hat gesagt, Sie stellen für ihn „ein Symbol für neue kreative Wege“ dar …

Hat er das gesagt? (lacht) Das wusste ich ja noch gar nicht …

Was könnte man als einen ganz neuen Ansatz von Ihnen betrachten?

Zwei Dinge: Ich bin Pragmatikerin und orientiere mich an den Dingen, die lösbar, machbar sind und gestaltbar sind. Auf der anderen Seite fokussiere ich mich auf das Autonomie-Paket und hier gilt es wirklich festzuhalten: Ich mache Freiräume auf. Mein Apell lautet: Schulen, bitte nutzt diese Freiräume und GESTALTET! Ich bin davon zu tiefst überzeugt, dass die Pädagoginnen und Pädagogen sehr genau wissen, was zu tun ist. Ihnen jetzt die nötigen Handlungsspielräume zu geben – das ist eine echte Kehrtwende. Nicht alles vorzuschreiben, alles ausdefiniert von oben herab anzuordnen, sondern nun die Pädagoginnen und Pädagogen ganz anders agieren zu lassen – das ist ein neuer und anderer Weg.

Ergänzend zu Autonomie: In Zukunft sollen ja auch die DirektorInnen einen größeren Spielraum bekommen, zum Beispiel in der Auswahl des Lehrpersonals. In der Steiermark läuft das als Versuch ja schon seit 2014 – und recht erfolgreich sogar, wie ich gehört habe …

Sehr erfolgreich. Mir ist das auch wichtig. Wenn wir von den Standorten erwarten, dass sie Schule neu denken, heißt das für mich auch, dass sie ganz anders unterrichten werden, beispielsweise sehr viel stärker themenspezifisch, projektorientiert und sich Schwerpunkte setzen werden. Und da braucht es Pädagoginnen und Pädagogen, die miteinander sehr gut arbeiten können, die sich auch gut ergänzen und gemeinsam diesen Unterricht neu definieren. Sie müssen zum Schulstandort und zur Schwerpunktsetzung passen. Für mich ist es da naheliegend, dass sich der Direktor oder die Direktorin seine PädagogInnen aussuchen kann.

Wir wissen aber auch, dass es gewisse Regionen geben wird, wo das nicht so einfach geht, weil die regionalen Rahmenbedingungen schwieriger sind. Das heißt, überall dort, wo sich niemand bewirbt, muss die Behörde nachsteuern.

Der Direktor oder die Direktorin kann sein Team also mitgestalten. Ist diesbezüglich – wie von manchen Oppositionsparteien vorgeschlagen – auch eine Umkehrung angedacht: Direktorinnen und Direktoren werden nicht mehr bestellt, sondern auf Zeit von einem Gremium – bestehend auch aus PädagogInnen und Eltern – gewählt?

DirektorInnen werden in Zukunft auf fünf Jahre bestellt werden. Und dadurch, dass sie dann ja Cluster steuern und lenken – dass sie größeren Schuleinheiten vorstehen – sowie durch das Autonomie-Paket bekommen diese Schuldirektorinnen und -direktoren auch ein anderes Profil. Sie sind dann, wenn Sie so wollen, Manager mit einem umfassenden Portfolio. Sie sind für die Schul- und Personalentwicklung zuständig, für die pädagogische Gestaltung und die Strategie-Entwicklung – das ist schon ein ganz anderer Führungsanspruch, der da ins Rennen kommt. Deshalb müssen wir Pädagoginnen und Pädagogen auch anders vorbereiten und an den Pädagogischen Hochschulen anders ausbilden. Das heißt, diese Leadershipfunktion wird in Zukunft einen weiten Raum einnehmen.

Die Auswahl der Direktorinnen und Direktoren selbst soll weiter bei den Schulbehörden bleiben, aber über ein standardisiertes Anforderungsprofil laufen – wo zum Beispiel neben der fachlichen Kompetenz die Führungskompetenz eine ganz wesentliche Anforderung ist. Die KandidatInnen sollen außerdem ein Konzept für den jeweiligen Standort vorlegen, damit man ein Gespür dafür bekommt, welche Vorstellungen diese Bewerber und Bewerberinnen für den Schulstandort haben. Was es dann auch geben soll, ist eine Kommission, die entlang dieser Kriterien in einem Hearing-Prozess die Auswahl treffen soll. Mir schwebt vor, dass dieser Kommission auch externe Experten angehören können, um den Prozess stärker zu objektivieren.

Zurück zum Thema „Leuchtturmschulen“. Auf die Anfrage hin „Sie haben ein weißes Blatt Papier vor sich und könnten Schule ohne finanielle Einschränkungen komplett neu gestalten“ gaben Sie einmal zur Antwort, Unterricht solle in Projekten statt nur in Fächern möglich sein …

… das ist kein „entweder-oder“, sondern wird immer ein „und“ sein. Wir werden immer Deutsch, Englisch und Mathematik brauchen. Aber ich wünsche mir viel stärker diese themenspezifischen Unterrichtsmöglichkeiten, weil ich mir davon erwarte, dass zum einen andere Skills und Fähigkeiten adressiert werden und zum anderen Zusammenhänge viel klarer werden.  Problemlösungskompetenz, Selbstorganisation, unternehmerisches Denken, Teamfähigkeit – das muss Schule heute vermitteln.

Da ist aber auch der Lehrer dann plötzlich eher der Berater, der Begleiter, der Coach – und nicht mehr der Frontalvortragende.

Aber diese Leuchtturmschulen mit all dem, was Sie vorschlagen – die gibt es ja schon! Sie wohnen ja in Mauer in Wien. Nehmen wir zum Beispiel die Freie Waldorfschule in Mauer – sie hat letztes Jahr ihr 50jähriges Jubiläum gefeiert. Das ist kein vages Experiment mehr. Die machen wie alle Waldorfschulen Epochenunterricht, sechs bis acht Wochen lang eine Epoche oder ein Projekt fächerübergreifend. Diese Projekte gibt es ja schon in der Realität …

… aber auch im öffentlichen Schulwesen!

… das spreche ich Ihnen auch nicht ab. Oder nehmen wir die Lernwerkstatt im Wasserschloss als größte freie Schule: die arbeitet inklusiv, jahrgangsübergreifend, ist Gesamtschule im besten Sinne des Wortes. Sie kreiert gerade eine neue LernbegleiterInnen-Ausbildung, gestaltet Symposien oder eine Zeitschrift wie diese. Viele freie Schulen arbeiten sehr innovativ – gemeinsam ist ihnen aber, dass sie am Hungertuch nagen. Wo würden Sie eine Möglichkeit dazu sehen, dass diese „Leuchtturmschulen“ auch die finanziellen Mittel dafür zugespielt bekommen?

Ich glaube, hier müssen wir schon unterscheiden zwischen öffentlichen Schulen und privaten Schulen. Die öffentlichen Schulen sind unser Auftrag und es ist vollkommen klar, dass wir für diese aufkommen. Alles andere ist auch eine budgetäre Frage. Wenn ich das richtig sehe, werden die Schulen in freier Trägerschaft von meinem Ressort mit 4,5 Millionen Euro pro Jahr gefördert. Diese Schulen haben bewusst ein ganz anderes pädagogisches Konzept gewählt und auch einen anderen Zugang. Sie verfügen auch über andere Geldgeber, Förderer oder Spenden.

Nun ja, aber die OECD legt vor, dass ein Schulplatz in Österreich im Schnitt 13.200 Euro pro Schülerin oder Schüler kostet …

… das hängt natürlich vom Schultyp ab …

Natürlich. Aber wenn man jetzt die 4,5 Millionen an Förderung auf sämtliche SchülerInnen an Schulen in freier Trägerschaft aufteilt, kommt man auf eine Förderung von 750 Euro pro Jahr pro Kind – das deckt also in etwa 6 – 7 Prozent der realen Kosten ab. Da bleibt schon ein Riesenanteil an den Eltern hängen.

Ja, aber diese Eltern entscheiden sich bewusst für diese Schulen. Oder die Schulträgerorganisation hat sich bewusst dazu entschieden, einen eigenen Weg zu gehen. Also, dass es mehr Geld geben sollte, das verstehe ich schon, ich hätte auch gerne immer mehr Geld vom Finanzminister (lacht)

Aber es gibt ja die Zahlen dafür, was diese Schulen in Summe kosten würden und immer wieder auch Entschließungs-Anträge von allen vier Oppositionsparteien, die Schulen in freier Trägerschaft mit ins Boot zu holen, auch finanziell … oder deren Förderung zumindest an jene der konfessionellen Privatschulen anzugleichen …  

Dann müssten sie sich auch den qualitätssichernden Maßnahmen und Rahmenbedingungen unterziehen – auch in der LehrerInnen- und PädagogInnen-Ausbildung, denn die ist ja dort auch anders gestaltet.

Ich denke mir, das eine könnte das andere bedingen.

Ich weiß nicht, ob es diesen Willen bei den Schulen in freier Trägerschaft gibt, sich einer klaren Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule oder Universität zu unterziehen, weil diese Schulen ja oft ganz andere Wege gehen …

Es sind oft ganz andere Wege, aber sie kommen eben zum selben Ziel. Wenn ich nur daran denke, wie viele Maturanten da in den letzten 50 Jahren aus Mauer hinausgegangen sind …

Das glaube ich schon. Schauen Sie, ganz offen: Wir haben finanziell natürlich ein Thema, denn wenn meine Annahmen stimmen, dann würde die Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft pro Jahr nicht 4,5 sondern 20 Millionen Euro bedeuten – und das ist schwierig. Aber wie gesagt, man müsste dann auch wirklich darüber diskutieren, dass sie sich den qualitätssichernden Maßnahmen, denen die öffentlichen Schulen unterliegen, annähern.

Aber wäre das nicht Autonomie im eigentlichen und letzten Sinne: der Bund gibt die Qualitätsstandards vor und die Wege dorthin sind offen?

Ja, aber schon auch bei der PädagogInnen-Ausbildung – und die ist schon klar vorgegeben mit Pädagogischen Hochschulen und Universitäten, wie sie jetzt gelagert sind. Und das ist bei den Schulen in freier Trägerschaft nicht der Fall.

Ich sehe schon, ich kann jetzt nicht mein Geldbörsel herausnehmen und …

Nein, leider – aber wir können gemeinsam zum Finanzminister gehen (lacht)

Ja, das wäre auch eine Möglichkeit  …