Erschienen im „Freigeist – Zeitschrift für innovative Pädagogik“, Oktober 2020
Seit 1977 wird im deutschen Sprachraum regelmäßig das „Wort des Jahres“ gewählt, später kamen noch das „Unwort des Jahres“, das „Jugendwort des Jahres“ sowie der „Spruch des Jahres“ hinzu. Da viele der gewählten Wörter oder Sätze einen reinen Deutschlandbezug hatten, begannen Österreich (seit 1999), Liechtenstein (seit 2002) und die Schweiz (seit 2003) ihre jeweils eigenen Wörter oder Wortkreationen zu küren.
Erinnern Sie sich noch? Österreichisches Wort des Jahres 2019: „Ibiza“. Unwort des Jahres 2019: „b´soffene G´schicht“. Spruch des Jahres 2017: „Mei Wien is net deppat!“ (Bürgermeister Michael Häupl) Unspruch des Jahres 2016: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist!“ (Norbert Hofer) Jugendwort des Jahres 2015: „zach“.
Als Wort des Jahres 2020 schlage ich „Homeschooling“ vor – wobei es sich hier eigentlich um einen Anglizismus handelt. Macht aber nichts, denn seit 2010 wird auch jährlich der „Anglizismus des Jahres“ gewählt 🙂
Ein kurzer Überblick zum Thema „Homeschooling“:
Durch die Schließung von Schulen und Kindergärten, bedingt durch das Coronavirus, rückte in der Öffentlichkeit eine Form des Lernens in den Vordergrund, die in den deutschsprachigen Ländern bisher eher ein „Nischendasein“ fristete: das „Homeschooling“ – auch Hausunterricht, häuslicher Unterricht oder Heimunterricht genannt.
Die Geschichte des häuslichen Unterrichts und der Möglichkeit oder dem Verbot dazu ist in jedem europäischen Land eine ganz unterschiedliche. In den meisten Ländern Europas besteht nur eine „Bildungs- oder Unterrichtspflicht“, das heißt: Unterricht muss stattfinden – ein solcher ist aber nicht an den Besuch einer Schule gebunden. Er kann somit auch im häuslichen Rahmen stattfinden, eine Möglichkeit, die vor allem in Frankreich (20.000 Kinder) und Großbritannien (160.000 Kinder) oft genutzt wird. In einigen Ländern wie Irland oder Italien haben die Bildungsfreiheit und die Möglichkeit zum Hausunterricht sogar Verfassungsrang.
Verboten ist Hausunterricht in der EU nur in wenigen Ländern – unter anderem in Spanien, Deutschland und Bulgarien – dort besteht nicht Unterrichtspflicht, sondern Schulpflicht. Immer wieder gibt es in diesen Ländern Petitionen mit der Forderung danach, die restriktive Schulpflicht aufzuheben – mit dem Hinweis darauf, dass das Recht auf Bildung mittels alternativer Lernformen, Bildungsfreiheit also, ein Menschenrecht sei.
In der Schweiz ist Hausunterricht erlaubt, die Vorraussetzungen dafür sind aber von Kanton zu Kanton verschieden. In den Kantonen Luzern, Zug, Schwyz und Zürich müssen Personen, die den Hausunterricht abhalten, ein Lehrdiplom besitzen, in anderen Kantonen nicht. In Österreich, wo ebenfalls nur Unterrichtspflicht besteht, brauchen Eltern seit dem „Provisorischen Gesetz über den Privatunterricht“ aus dem Jahre 1850 kein Lehrdiplom mehr, um ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Allerdings muss zur Feststellung, ob die Kinder das Lehrziel der betreffenden Schulstufe erreicht haben, am Ende eines jeden Schuljahres eine Externistenprüfung an einer öffentlichen Schule abgelegt werden. Trotz dieser schon seit einem langen Zeitraum bestehenden Möglichkeit einer anderen Form des Lernens, wird „Homescholling“ nur von einem kleinen Teil der Eltern in Österreich in Anspruch genommen – nur 2.320 Kinder waren im Schuljahr 2018/19 zum häuslichen Unterricht abgemeldet.
Eine lange Tradition des „Homeschooling“ gibt es hingegen in den Vereinigten Staaten – dort findet jährlich für ca. 1,5 Millionen Kinder Unterricht in Form von „Homeschooling“ statt. Eine große Mehrheit der Eltern (83 Prozent) gibt an, ihre Kinder aus religiösen oder moralischen Gründen selbst unterrichten zu wollen. Erst seit einigen Jahrzehnten steigt die Zahl jener Eltern, die nicht einfach die traditionelle Schule (plus Religionsunterricht!) mit all ihren Lehrplänen nach Hause verlagern, sondern den Kindern abseits von Schulen die Möglichkeit bieten wollen, selbstbestimmt lernen zu können.
Ausgangspunkt dafür war die 68er-Bewegung im vergangenen Jahrhundert, die vor allem in den USA (aber auch in Deutschland) radikale Schulkritiker auf den Plan rief, welche mit Büchern in hohen Auflagenzahlen dazu anregten, dem herkömmlichen Schulsystem den Rücken zu kehren und alternative Bildungs- und Lernnetzwerke aufzubauen, wie Everett Reimer (Buch: „Schafft die Schule ab!“), George Dennison (Buch: „Lernen in Freiheit“), Paul Goodman (Buch: „Das Verhängnis der Schule“) oder Joel Spring (Buch: „Erziehung als Befreiung“). Auf den deutschsprachigen Raum hatten vor allem John Holt, der den Begriff „Unschooling“ prägte und Ivan Illich großen Einfluss, Illich nicht zuletzt deshalb, da er neben vielen Universitäten auf der ganzen Welt auch an den Universitäten Kassel, Marburg, Oldenburg und von 1991 bis zu seinem Tode im Jahre 2002 an der Universität in Bremen Studenten seine Ideen näherbrachte. Unter dem von ihm geprägten Begriff des „Deschooling“ verstand er den Versuch, das Monopol der Schule auf die Vermittlung von Wissen und die Vergabe von Titeln und Berechtigungen zu brechen und sie durch ein Netz „kommunikativer und geselliger Institutionen“ zu ersetzen.
Auf ihn und John Holt berufen sich viele Eltern, die sich in Österreich und der Schweiz seit einigen Jahren mit zunehmender Zahl als „Freilerner“ organisieren, um ihren Kindern ein selbstbestimmtes Lernen fernab der Institution „Schule“ zu ermöglichen.
In diesem Sinne ein Buchtipp: Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ – 1971 erschienen, aber aktuell wie eh und je 🙂
Ivan Illich. Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift. Verlag C.H.Beck, 2017 (7. Auflage)
Erläuterungen zur „Homeschooling“-Karte: rot = verboten, blau = erlaubt, violett = mit Einschränkungen erlaubt, grau = unbekannt