Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

oder: manchmal gelingen Übergänge nicht

erschienen im TAU – magazin für barfußpolitik, Heft 19

In den 20-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bezeichnete der Schweizer Pädagoge und Mitbegründer des „Weltbundes zur Erneuerung der Erziehung“ Adolphe Ferriére (1879-1960) Wien voll des Lobes einmal als „Hauptstadt des Kindes“ – und tatsächlich war es so, dass nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie und jahrhundertealter und verkrusteter Strukturen sich durch die Experimentierfreudigkeit zahlloser Menschen eine einst öde pädagogische Landschaft in eine blühende verwandelte.

All die in ihren weltanschaulichen oder politischen Ausrichtungen so unterschiedlichen im Wien der Zwischenkriegszeit entstandenen Projekte und Initiativen hier aufzählen zu wollen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Sie reichen von der „Burlingham-Rosenfeld-Schule“, einer von Anna Freud mit ihren Freundinnen Dorothy Burlingham  und Eva Rosenfeld 1927 gegründeten kleinen Privatschule bis hin zur schnell wachsenden Montessori-Bewegung, in welcher Lili Peller-Roubiczek und Emma Plank die treibenden Kräfte waren.

Sie reichen von Siegfried Bernfelds „Kinderheim Baumgarten“ und August Aichhorns „Jugendheim Oberhollabrunn“ – in welchen eine aufkommende „Psychoanalytische Pädagogik“ mit reformpädagogischen Gedanken Hand in Hand gingen – bis hin zur „Individualpsychologischen Versuchshauptschule“, an deren Aufbau Oskar Spiel mit beteiligt war. Sie reichen von Alfred Adlers Erziehungsberatungsstellen bis hin zur „Schönbrunner Erzieherschule“, von der ersten 1927 eröffneten Waldorfschule bis hin zu den Schulprojekten Eugenie Schwarzwalds.

Dass sich eine solche Experimentierfreudigkeit letztlich in vielen konkreten Projekten manifestieren konnte, ist auch darauf zurückzuführen, dass von Seiten der politischen Verantwortlichen eine große Bereitschaft vorhanden war, Erziehung neu zu denken. Karl Seitz, Wiens Bürgermeister von 1923 bis 1934 und ursprünglich selbst Lehrer, unterstützte die Reformpläne Otto Glöckels (von 1922 bis 1934 Präsident der Wiener Stadtschulrates). Worauf Glöckel inhaltlich abzielte, lässt sich wohl am besten mit einem Zitat aus seiner Schrift „Drillschule – Lernschule – Arbeitsschule“ (letztere sollte die erste ersetzen) erläutern:

„Wie außerordentlich wichtig ist es, den Kindern anstatt der öden Lesebuchweisheit die Welt zu zeigen, wie sie wirklich ist! Die engen Schulwände werden gesprengt: Hinaus in die Straßen, in die Natur, in die Werkstätten! Öffnet Hirn und Herz, ihr Kinder müsst euch zurechtfinden lernen im drängenden treibenden Leben! Augen und Ohren auf!“ Wie sehr vermisst man solche Worte von den heutigen für die Bildungspolitik Zuständigen.

Was aber wurde aus all den eingangs erwähnten Projekten? Unter der Diktatur des Krucken- und später Hakenkreuzes kam es bald zur Schließung all dieser innovativen Projekte. Allein die nach 1934 verlaufenden Biografien der oben erwähnten Namen weisen auf das Ausmaß der Katastrophe hin: Alfred Adler, Siegfried Bernfeld, Emma Plank und Lili Peller-Roubiczek emigrierten in die USA, Anna Freud und Dorothy Burlingham nach England. Otto Glöckel wurde im Anhaltelager Wöllersdorf interniert, Otto Felix Kanitz, der Leiter der „Schönbrunner Erzieherschule“ im KZ ermordet.

Hunderte andere Namen engagierter Pädagog*innen mit ähnlichen Schicksalen ließen sich hier anfügen. Zurück blieb nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Vakuum, das sich nie wieder in der früheren Form füllen ließ. Zwar gab es nach 1945 zögerliche Versuche, an die einst in der Ersten Republik entstandenen Aufbauprojekte anzuschließen, was aber nach über zehn Jahren Gleichschaltung aller pädagogischen Einrichtungen mit der Ideologie des Austrofaschismus und später des NS-Ideologie oft nicht mehr möglich war. So lud beispielsweise Anton Tesarek, Zentralinspektor für Kindergärten und Horte der Gemeinde Wien, 1946 Emma Plank ein, sich am Wiederaufbau zu beteiligen. Emma Plank nahm das Angebot an, kehrte aber bald enttäuscht in die USA zurück. „Ich war die Freiheit, die amerikanische Großzügigkeit gewöhnt“, sagte sie in einem Interview, „und von der Kleinlichkeit in Wien erschüttert.“

Ähnlich wie Emma Plank erging es auch vielen anderen Pädagog*innen: Sie kamen zwar noch manchmal, wie beispielsweise Ernst Papanek, Rudolf Ekstein oder Bruno Bettelheim, zu Besuchen oder Gastvorträgen nach Wien, stellten aber fest, dass es keine Tradition mehr gab, an die man hätte anschließen können. Erst am Ende ihres Lebens kam auch Anna Freud, die in England vor allem die „Kinderpsychoanalyse“ weiter entwickelte, noch dreimal nach Wien und stellte bei ihrem letzten Vortrag die Frage: „Wenn wir nicht durch die politischen Ereignisse unterbrochen worden wären, wenn wir weiter gebaut hätten auf diesen Anfängen: Wo wäre die Psychoanalyse heute in Wien?“ Man könnte die Frage von Anna Freud auch ausweiten – im Sinne von: Wo wäre die reformpädagogische Bewegung ohne diese Unterbrechung heute wohl?

Wo aber stehen und wohin entwickeln sich die Bildungseinrichtungen unserer Tage? Nichtkonfessionelle Privatschulen werden finanziell ausgehungert, häuslicher Unterricht wieder erschwert, an staatlichen Schulen wird unter Innovation das Aushändigen von Laptops selbst an die Jüngsten verstanden. Folgen wir Glöckels Aufruf („Hinaus in die Straßen, die Natur, in die Werkstätten!“) oder geben wir uns zufrieden mit einer Schule als Aufbewahrungs-, Ausbildungs- und Selektionseinrichtung?  

So oder so – eine Auseindersetzung mit den innovativen Projekten der Zwischenkriegszeit kann immer wieder inspirierend sein. Sie kann aber auch die Vermutung, die Harald Eichelberger und Charlotte Zwieauer in ihrem Buch „Das Kind ist entdeckt“ aussprechen, bestätigen: „dass die Geschichte fortschrittlicher war als die Gegenwart.“

Manchmal gelingen Übergänge nicht. Dennoch: weitere Anläufe dazu sind legitim 🙂 Und immer wieder und immer noch machen sich Projekte und Schulen auf den Weg. Viele davon findet man unter

www.schule-im-aufbruch.at

www.unsereschulen.at

www.lernwelt.at