Innovation und Bildung

Foto: David Meixner

Er ist einer der innovativsten Designer der Welt. Stefan Sagmeister gestaltete Plattencover für die Rolling Stones, Lou Reed oder David Byrne. Die letzten sieben Jahre hat er vor allem am Happy-Projekt gearbeitet. Seine „Happy Show“ machte in zahlreichen Städten halt und war 2015 im Wiener MAK zu sehen. Sein Hauptprojekt „The Happy Film“ lief nun Anfang dieses Jahres in den österreichischen Kinos an. Nach der Premiere im Cinema Paradiso in St. Pölten nahm er sich Zeit für ein Interview mit  Rainer Wisiak.

Herr Sagmeister, eine ganz banale Frage: Welche Personen oder Unternehmen würden Sie zur Zeit als sehr innovativ bezeichnen?

Wenn ich mir ein Unternehmen UND eine Einzelperson anschaue, dann wäre das zur Zeit sicherlich Elon Musk, der „Tesla“ macht – ich nehme an, dass diese Autofirma in Amerika auch hier bekannt ist … Was mir an Musk gefällt, ist, dass er in seinem Leben so ganz verschiedene Themen angegangen ist oder Projekte ins Leben gerufen hat: also zum einen die Bezahlung auf dem Internet (PayPal), dann das Elektroauto, später SolarCity und dann die Raumfahrt (SpaceX). Sehr gefallen hat mir die Art und Weise, wie er das Elektroauto aus dieser Alternativecke rausgeholt hat und nun ein allgemein verwendbares Auto konstruiert. Als Kleiner – oder relativ Kleiner – eine Autofirma aufzubauen, die funktioniert, das hat bisher noch kaum jemand geschafft, da gibt es nur negative Beispiele in der Geschichte, gerade im Bereich reines Elektroauto … und dann die ganze Weltraumgeschichte! Das war eigentlich unerhört, dass ein Privater diesem Thema nachgeht. Also Elon Musk würde mir als Erstes einfallen. Wenn Sie mehr hören oder lesen wollen, gibt es da einen ausgezeichneten Blog, der auch für das Thema Erziehung sehr interessant sein könnte: waitbutwhy.com

Innovativ zu sein über ein lange Zeitspanne hinweg ist sicherlich recht mühsam, anstrengend …

… vielleicht sogar unmöglich. Ich glaube, dass die meisten Leute die großen Dinge ihres Lebens so im Alter irgendwo um die 30 herum andenken. Ich glaube, das hat auch mit der Biologie zu tun, damit, dass das Gehirn mit 29 Jahren aufhört zu wachsen. Ich würde heute – ich bin 54 – wahrscheinlich auch keine riesengroße komplett neue Sache anfangen, die ich davor noch nie ausprobiert habe. Ich habe zwar derzeit gerade einen wahnsinnigen Haufen Energie, aber die Sachen, die ich mache, die bauen auf Dingen auf, die ich schon kann.

Helfen Ihnen da die Sabbaticals (Sagmeisters Agentur ist alle sieben Jahre für ein ganzes Jahr komplett geschlossen), innovativ zu bleiben?

Sehr! Unglaublich!! Ich würde sagen, die Sabbaticals hatten und haben viele Folgen: zum einen haben sie sichergestellt, dass ich meinen Beruf immer noch als Berufung ansehe und nicht nur als Karriere oder gar Arbeit. Und bei Berufung meine ich, ich würde es auch machen, selbst wenn ich nicht dafür bezahlt werden würde. Also ich habe das Gefühl, ich muss das machen. Und obwohl ich mein eigenes Studio habe und im Prinzip machen konnte und machen kann, was ich will – also jetzt nicht ganz, weil ich die Agentur mit Jessica Walsh leite und das schon mit ihr absprechen muss – wird dieses Gefühl in den sieben Jahren dazwischen aufgrund verschiedener Zwänge dann automatisch weniger. Und da ist das Sabbatical dann ganz ganz wichtig.

Ich glaube auch, dass jede neue große Richtung von uns aus den Sabbaticals heraus entstanden ist und wenn ich jetzt auf die Zeit im Studio zurückblicke, dann sehe ich ganz automatisch, ohne dass ich nachdenken muss: die ersten sieben Jahre, die zweiten sieben Jahre und die dritten sieben Jahre – die sich auch wirklich voneinander unterscheiden. Und wenn ich nach den ersten sieben Jahren nicht auf Sabbatical gegangen wäre, würden wir wahrscheinlich immer noch CD-Covers machen und uns wundern, wieso die Kunden so schlecht geworden sind und die Bezahlung so schlecht geworden ist oder niemand mehr daran interessiert ist (lacht herzlich). Und die Sabbaticals erlauben einem natürlich sehr gut, über die großen Zusammenhänge nachzudenken. Man ist aus dem Betrieb draußen und muss nicht am Dienstagnachmittag um fünf überlegen, ob diese Files jetzt wirklich zum Programmierer gegangen sind oder nicht. Wenn ich drin bin und an allem so nah dran bin, verliere ich die großen Zusammenhänge.

Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther sagt: Breakthrough-Innovationen entstehen, wenn „Spiel“ im Spiel ist. Viele Ihrer Arbeiten wirken sehr verspielt. Gibt es in Ihrem Leben auch das ganz zweckfreie Spiel(en)?

Ich spiele Karten hie und da und mag Board-Games sehr gerne. Aber im Studio ist das natürlich anders. Was wir auf jeden Fall versuchen, ist, jede Möglichkeit zu nützen, um vom Computer weg zu kommen. Da spielt natürlich ein bisschen was Selbstbezogenes mit, weil es halt langweilig ist, den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen. Es hat aber vor allem damit zu tun: Da alle, die im Design arbeiten, vor dem Computer sitzen, ist die Möglichkeit sehr groß, dass alle sehr ähnliche Sachen machen – vor allem, weil alle die gleichen Werkzeuge verwenden. Es ist halt so, dass sich gewisse Programme total durchgesetzt haben und dann wird eben alles sehr gleich. Aber wenn wir das künstlich unterbrechen, indem wir Teile oder ab und zu die Hauptteile nicht digital oder nur halb digital machen – oder dem halt mit anderen Mitteln und Werkzeugen beikommen, wenn wir also zum Beispiel das Spiel mit reinholen, dann wird das automatisch anders. Auch im Design ist also das Neue neurologisch erklärbar.

Das Wissenschaftlerehepaar Root-Bernstein stellte unlängst eine interessante Studie mit dem Titel „Arts Foster Scientific Success“ (Wie die Künste den wissenschaftlichen Erfolg nähren) vor. Darin stellten sie das Freizeitverhalten von allen bis dahin gekürten 510 NobelpreisträgerInnen jenen von 7306 WissenschaftlerInnen gegenüber, die in offiziellen Verbänden organisiert sind, aber keine Nobelpreise erhalten haben. Das Ergebnis: Die NobelpreisträgerInnen musizieren viermal so oft wie die „NormalwissenschaftlerInnen“, beschäftigen sich siebzehnmal häufiger aktiv mit bildender Kunst oder sind fünfundzwanzigmal häufiger abseits ihrer Profession als Autoren – Lyrik, Science Fiction – kreativ.

Das glaube ich sofort, das ist auch bei Designern so. Alle Designer, die ich respektiere, haben ein großes Interesse außerhalb vom Design. Die, die wirklich nur im Design bleiben, machen schon von dem her nichts Interessantes, weil sie nur vom Design beeinflusst werden – und das wird nicht interessant. Die sehen dann nur andere Designer, bauen nur auf dem auf und können von dem her gar nicht innovativ sein – das ist eigentlich total logisch. Man kann wahrscheinlich ein Handwerk auf die Spitze treiben, das geht … es wäre interessant zu wissen, ob das zum Beispiel bei klassischen Klavierspielern auch so ist. Ob die Top-10 der klassischen Klavierspieler sich mehr mit anderen Dingen beschäftigen oder ob die wirklich nur Klavierspielen üben.

Ich denke mir, eine solche Studie wäre für sämtliche Berufssparten äußerst interessant.

Wenn ich mir also die Top-5 Designer in den Staaten anschaue, dann kann ich resümieren: die haben alle ein großes Interesse außerhalb vom Design. Das ist ab und zu sogar sehr weit weg vom Design und es kann sein, dass die sogar ein komplett anderes Standbein haben – also der eine ist irgendwie im Sozialen engagiert, der andere in der Politik, der oder die Dritte in was auch immer …

Leider prallen solche Erkenntnisse an unserem Bildungswesen ab. Da herrscht immer noch die Doktrin: lieber mehr vom Gleichen (faden Stoff). Einige Ihrer Arbeiten haben sich ja auch mit dem Thema „Bildung“ auseinandergesetzt – oder der permanenten Unterfinanzierung dieses Bereichs …

Ja, wie beispielsweise die Projekte „True Majority“ oder „double up the education system“ …

… ging es da einfach darum, das so niedrige Bildungsetat in den Vereinigten Staaten zu kritisieren?

Eigentlich ging es darum, das Militärbudget zu kürzen. Die Aktion war für eine Organisation bestehend aus 500 CEOs, also Leuten, die eine Glaubwürdigkeit in der amerikanischen Gesellschaft haben. Die haben sich das Militärbudget angesehen und gesagt: dieses könnte um 15 Prozent gekürzt werden – das heißt 80 Milliarden Dollar! – ohne das Militär eigentlich zu schwächen. Ein Beispiel nur: das Militärmusik-Budget in Amerika ist sechsmal so hoch wie das Kulturbudget der Staaten. Für die haben wir lange gearbeitet und irgendwann hat man sich entscheiden müssen, wo das ganze Geld hin soll. Die CEOs haben dann beschlossen, dass das Gesundheits- und das Bildungswesen das Geld am dringendsten nötig haben.

Bleiben wir beim Thema Bildung. In Österreich sind die Verhältnisse umgekehrt – da ist das Bildungsbudget um ein Vielfaches höher als das Verteidigungsbudget. Dennoch tritt das Bildungswesen auf der Stelle. Nach „The Happy Show“ und „The Happy Film“ – hätten Sie Vorschläge zum Thema „The Happy School“?

Ja klar. Also als Erstes würde ich verbieten, dass eine Schule als Würfel gebaut wird – oder als Quader eben. Ich glaube, dass der Raum, in dem unterrichtet wird, eine große Rolle spielt. Das habe ich jetzt auch bei meiner eigenen Arbeit gesehen, wo ich im Haus in Mexico City mit meinem Büro vom Keller ins Wohnzimmer umgezogen bin – die Arbeiten sind wesentlich besser geworden …

Kommt das hin, wenn Hundertwasser sagt, die gerade Linie sei gottlos?

Ich würde das jetzt nicht so überspitzt ausdrücken, aber ich glaube, die gerade Linie in Österreich ist gottlos – weil da eh schon so viel gerade ist. Also, ich glaube, wenn man jetzt irgendwo in irgendeinem Tiroler Urgestein, wo alles rau und wild ist, das Bestreben hat, eine gerade, ganz ruhige Sache hinzubauen, dann verstehe ich das total.

Aber wenn man jetzt da, halb im Vorort neben dem Konsum oder Spar noch einmal einen Würfel hinstellt, hundert Jahre nach dem Bauhaus (-Stil), dann sage ich einfach: fuck you! Also, ich meine: Ist denen jetzt wirklich hundert Jahre lang nichts anderes eingefallen, als denselben Schaß, der damals schon sehr fragwürdig war, noch einmal daherzubringen?

Also das wäre das eine. Ein Weiteres wäre: Ich glaube, es werden die ganz falschen Sachen unterrichtet. Die Tatsache, dass die ganzen Dinge von der Tiefenphysik bis zu Mathematik alle immer noch bis ins Detail unterrichtet werden, ist unerträglich. Es führt lediglich dazu, dass man dann so denken lernt und ich glaube, es gäbe genug Möglichkeiten, das Denken anhand von Dingen zu erlernen, die man auch wirklich brauchen kann. Es gibt nicht einen meiner 27 Klassenkameraden, mit denen ich maturiert habe, der – außer, sie haben es dann studiert – diese Dinge im Leben brauchen konnte. Nicht einen Einzigen!

Während die ganzen Dinge, die alle auf uns zufallen, wie: „Wie beende ich eine Beziehung?“, „Wie gehe ich mit dem Tod um?“, „Wie gehe ich mit Streit um?“ – also die ganzen Dinge, die JEDER von meinen 27 Klassenkameraden durchlebt, durch den Rost fallen. Das ist ein Blödsinn, gerade jetzt, wo es für so viele Fakten einen so einfachen Zugang gibt. Ich weiß natürlich, ich brauche ein gewisses Grundwissen, um nachschauen zu können, aber dieses Grundwissen könnte besser entstehen und anhaltender sein, wenn ich mit Themen des Lebens verbunden bin, als bis überall ins Detail hineinzugehen.

Ken Robinson, ein Engländer, der jetzt in Amerika lebt und sich lange mit dem Bildungsthema beschäftigt hat, schreibt: „Bildungssysteme verhindern Kreativität meistens, weil sie auf der falschen Prämisse aufbauen, das Leben verliefe LINEAR und nicht ORGANISCH.“

Ich kenne Ken Robinson sehr gut, wir waren oft gemeinsam essen oder haben auf der gleichen Bühne gesprochen. Von ihm würde ich ziemlich alles unterschreiben und das vorhergehende Zitat macht natürlich Sinn. Ich denke mir, dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch viele Bereiche, auch durch den Bereich Design, bis hin zur Universität. Es erinnert mich an Edward de Bono – kennen Sie ihn?

Der Philosoph, der in Malta wohnt?

Ja, der viel übers Denken nachgedacht hat und viele Hilfen zum Denken erfunden hat, die er in Vorträgen und Workshops in der ganzen Welt weitergibt. Er arbeitet viel mit Regierungen, mit Unis und mit Firmen. Einmal habe ich einen Dreitages-Workshop bei ihm in Malta gemacht, da ist er viel billiger (lacht) … denn in Amerika ist er unbezahlbar, weil er dort viel für Firmen arbeitet. In diesem Workshop habe ich ihn gefragt, in welchen von diesen drei Bereichen, also: Regierungen, Universitäten oder Firmen – er das Gefühl hat, dass am wenigsten gedacht wird. Und wie aus der Pistole geschossen kam: Universitäten! Und de Bono hat jetzt wirklich mit vielen gearbeitet – weltweit. Und ich meine, wenn in der höchsten Ausbildungsstätte nicht nachgedacht wird oder weniger nachgedacht wird als in den sonst so verschrienen Regierungen, dann sagt das schon etwas über unsere Bildungssysteme aus.

Ich kenne Schulen, die neben dem Erlernen von bestimmten Kulturtechniken den Hauptfokus  darauf legen, dass die Schüler Tagebuch führen, um es wöchentlich mit einem von ihnen gewählten Mentor zu besprechen. Sie führen seit ihrem zwölften Lebensjahr ein Tagebuch. Und das Tagebuchschreiben hat für Sie bis heute eine große Bedeutung …

Absolut. Ich finde es ein sehr angenehmes Werkzeug. Erstens, was den Vorgang des Schreibens selbst betrifft – es ist so eine leichte Mini-Meditation. Ich schreibe es einmal in der Woche, das tut ganz gut. Und manchmal überkommt es mich, nachzuprüfen: Was habe ich denn eigentlich vor fünf Jahren gedacht? Da ist es dann oft so, dass es mich wundert: Mein Gott, das wollte ich vor fünf Jahren schon ändern – und das habe ich immer noch nicht gemacht! Aber eben – ich glaube auch: genau solche Sachen gehören in die Schulen hinein, verbunden mit Fragen wie: Wie gehe ich mit der eigenen negativen Einstellung um? Wie gehe ich mit Geld um?

Dem Filmpublikum haben Sie heute einen kleinen Tipp gegeben, der auf lange Sicht das Glück anlocken könnte: sich ein Notizbüchlein mit einem Stift aufs Nachtkästchen zu legen …

Das ist eine schöne, gute und einfache Sache: Ich habe auf meinem Nachtkästchen ein Notizbuch – und wenn ich abends den Wecker stelle, schreibe ich mir drei Dinge auf, die an diesem Tag funktioniert haben. Wir alle haben einen Hang zum Negativen, weil das in der Steinzeit überlebenswichtig war. Aber eigenartig: Wir leben heute in der sichersten Zeit der Menschheitsgeschichte, haben aber am meisten Schiss. Und die negativen Beispiele fallen uns immer am stärksten auf, zum Beispiel: in der langsamsten Warteschlange zu stehen. Im Notizbuch könnten dann so banale Dinge stehen wie: Heute bin ich in der schnellsten Schlange gestanden! Die großen Dinge, die einem gelungen sind, natürlich auch …

Vielen Dank für den Tipp und das Gespräch.

Gerne.