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Ein Interview von Rainer Wisiak mit Karl Garnitschnig, Vorsitzender der „Österreichischen Janusz-Korczak-Gesellschaft“
Über viele Jahrzehnte hinweg hat Karl Garnitschnig, emeritierter Professor am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien, reformpädagogische Konzepte studiert wie auch mitentwickelt. Er ist Co-Autor des „Herzogenburger Lehrplans“ und zur Zeit Referent im Universitätslehrgang Waldorfpädagogik sowie Vorsitzender der „Österreichischen Janusz-Korczak-Gesellschaft“. Rainer Wisiak sprach mit ihm über die Themen „Herzensbildung“ und „Schulautonomie“ – und somit letztlich auch ein wenig über die österreichische Bildungspolitik.
Herr Garnitschnig, ich würde dieses Interview gerne mit einer Frage zum Begriff der „Herzensbildung“ eröffnen, einem Begriff aus der Zeit der deutschen Klassik – heute würde man wohl eher von „emotionaler Intelligenz“ sprechen. Herzensbildung war über eine lange Zeit hinweg ein wesentlicher Bestandteil einer erwünschten ganzheitlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen – man denke nur an Pestalozzi (1746 – 1827), der die Schulung von Kopf, Herz und Hand betonte. Wann, glauben Sie, nahm diese so einseitige Fokussierung auf das Verstandesmäßige ihren Anfang?
Schon lange vor der deutschen Klassik ist die Vorstellung aufgetaucht, man müsse alles empirisch untersuchen. Denken Sie nur an Galilei (1564 – 1642) – eine seiner Aussagen war ja: „Alles messen, was messbar ist – und messbar machen, was noch nicht messbar ist.“ Gedanken wie diese führen in die Zeit der Empirie im 19. Jahrhundert, in der man begonnen hat, den Menschen auf das zu reduzieren, was messbar, wägbar, beobachtbar ist – und zwar von außen her beobachtbar ist. Jakob Moleschott, ein niederländischer Arzt und Physiologe prägte beispielsweise den Satz „Phosphor ist Gedanke“ und meinte, alles ließe sich auf physikalisch-chemische Prozesse zurückführen – und so sei der Mensch auch beschreibbar. Diese Vorstellungen und Tendenzen reichen herauf bis in die moderne Neurophysiologie – mit beispielsweise Gerhard Roth als einen Vertreter.
Das ganze Gebiet der Neurophysiologie und Neurobiologie beinhaltet aber ein großes Spektrum verschiedenster Ansichten …
Natürlich – und insofern ist es für mich sehr interessant, dass andere Neurobiologen wie Manfred Spitzer, Gerald Hüther oder Joachim Bauer davon ausgehen, dass sehr wohl die Umgebung der Gehirne – oder überhaupt die Umgebung der Gene – sehr bedeutsam für die Entwicklung des Menschen ist. Bei ihnen wird eine wertschätzende Beziehung zu einem zentralen Faktor. Dadurch wird meines Erachtens diese Richtung der Neurobiologie auch für Pädagogen interessant.
Die letztgenannten Neurobiologen verweisen ja auch darauf, dass Lernen im eigentlichen Sinne nur dann stattfinden kann, wenn auch die Emotionen daran beteiligt sind.
Ja, die rein verstandesmäßige Erfassung eines (Lern-)Stoffes reicht für Lernen nicht aus. Und weil Sie von Herzensbildung sprachen – es ist ja hochinteressant, wie das oft sogar in der Umgangssprache seinen Ausdruck findet: denn mache ich etwas wirklich aus mir heraus, bin ich ganz bei der Sache, dann bin ich „mit jeder Faser meines Herzens“ dabei. Und eigentlich ist „mit jeder Faser meines Herzens“ immer gemeint: der Mensch als Ganzes – und zwar mit Körper, Seele und Geist!
Wissensaneignung alleine kann eigentlich nicht zu einem wirklich effektiven und produktiven Lernen führen. Schülerinnen und Schüler müssen von etwas auch emotional angesprochen sein.
Die simpelste Formel dafür, wie Lernen funktioniert?
Genau.
Warum tut sich das öffentliche Schulsystem mit dieser simpelsten Formel so schwer?
Diese Form des Lernens würde viel mehr Autonomie für jeden einzelnen Schüler erfordern … und wenn schon mehr Autonomie für jeden einzelnen Schüler, dann natürlich auch für den einzelnen Lehrer oder die einzelne Lehrerin – und für die ganze Schule! Und es scheint ja gerade zur Zeit wiederum unwahrscheinlich viel dieser Entwicklung entgegenzustehen.
Mit zwei Reformpädagogen haben Sie sich Zeit ihres Lebens sehr intensiv befasst: Rudolf Steiner und Janusz Korczak. Bei beiden finden sich „Autonomie“ oder „Freiheit“ als zentrale Begriffe ihres Denkens wie Tuns …
Ja, entschieden! Man kann ruhig sagen, dass bei beiden die Freiheit eine wesentliche Rolle spielt. Das EIGENTLICHE Hauptwerk von Rudolf Steiner ist die „Philosophie der Freiheit“. Er bezeichnet es des Öfteren auch als sein pädagogisches Hauptwerk, als das Werk, das seiner Pädagogik zugrunde liegt.
Und worum geht es in der „Philosophie der Freiheit“? Im Grunde genommen darum, zu sehen, wie eben gerade über das Denken Freiheit möglich wird – und zwar, weil ja Freiheit immer zu tun hat mit: dass Individuen für sich selbst Vorstellungen eines guten Zusammenlebens entwickeln. Es ist kein Mensch frei oder kann als frei bezeichnet werden, wenn er sich bloß von außen her bestimmt, sondern es geht immer wieder darum, dass er sich selbst bestimmt.
Und nun kommt aber da ein Zweites hinzu: dass jeder Mensch, der sich wirklich seiner selbst bewusst ist, auch weiß, dass er niemals ohne einen anderen zu diesem Selbstbewusstsein kommt. Das bedeutet: der Mensch, der wirklich frei ist, der lebt IMMER in wechselseitiger Anerkennung mit anderen!
Das bislang letzte vom Benediktinermönch David Steindl-Rast erschienene Buch trägt den Titel „Ich bin durch dich so ich“ …
Ja, das trifft es genau.
Ein Zitat von Janusz Korczak: „Wir werden eine Schule errichten, wo Kinder nicht tote Buchstaben von totem Papier lernen, sondern wo sie stattdessen lernen werden, wie die Menschen leben, warum sie so leben, wie man anders leben kann und was man können und tun muss, um in der Fülle eines freien Geistes zu leben.“ Da schließt sich der Kreis hin zu Rudolf Steiner, nicht?
Genau. Und deshalb gipfelt die „Philosophie der Freiheit“ ja eigentlich auch in einer Ethik. Genau so, wie meines Erachtens eigentlich auch in diesem Zitat.
Denn: Was ist Ethik? Im Grunde genommen das, was Menschen, die autonom sind, in wechselseitiger Anerkennung für ihr Zusammenleben entwickeln. Ethik, würde ich sagen, (er)fordert eben freie Menschen – und was ist absurder, als wenn man einer Welt von freien Menschen die Vorschriften eines Lehrplans zugrunde legt. Ein Lehrplan, der im Grunde genommen etwas ist, das aus Überlegungen von Ministerialbeamten und Wirtschaftsleuten heraus entstanden ist. Pädagogen wurden und werden da ja kaum dazu herangezogen.
Man könnte den Lehrplan diesbezüglich verteidigen, dass es sich ja nur um einen Rahmenlehrplan handelt, der einen allgemeinen Rahmen vorgibt, in dem man sich frei bewegen kann …
Wenn man das könnte, ja 🙂 Immerhin hat schon (Johann Amos) Comenius (1592 – 1670) sinngemäß gesagt: Egal, welche Interessen die Kinder haben – geht von diesen Interessen aus, denn diese Interessen lassen sich letztlich mit ALLEM verbinden. Aber wer versteht denn das? Wer versteht denn schon, dass im Grunde genommen, egal, wo ich beginne, ich immer das GANZE davon ableiten kann! Wenn man die Welt so verstehen könnte und die Welt so verstehen würde, dann könnte das Kind wirklich von seinen Interessen aus die Welt erforschen und seine Potenziale entwickeln.
Es geht also bei der Förderung von Wissen um die Förderung jener Potenziale, die es dem Kind ermöglichen, Wissen sich selber und selbstständig anzueignen. Unterstützt natürlich von Lehrerinnen und Lehrern, die dieses Bewusstsein auch in sich selber haben und tragen – und autonom agieren können!
Um nochmals auf den Begriff „Autonomie“ zurückzukommen – (Theodor W.) Adorno hat auf die Frage „Wie müsste Erziehung gestaltet werden, dass Auschwitz nie wieder passiert?“ einmal geantwortet, ich zitiere: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“
Selbstbestimmung, ja … damit jedes Kind und jeder Mensch zu einem klaren Bewusstsein seiner selbst und seiner eigenen Bedürfnisse kommen kann, weil er, wenn er das hat, ja viel eher spüren kann: „Moment – wo überschreite ich jetzt die Bedürfnisse des anderen, dass er seine Bedürfnisse nicht verwirklichen kann?“
Und wo verletze ich die Bedürfnisse des anderen, wo beginnt die „Gewalt gegen jemand anderen“? Der französische Philosoph Emmanuel Levinas war überzeugt davon, dass Gewalt schon dann vorliegt, wenn jemand nicht in Entscheidungen eingebunden ist, die ihn betreffen. Ich frage Sie (lacht): Wird in unserem Schulsystem so agiert, dass jene in Entscheidungen eingebunden sind, die sie betreffen?
Und weil wir heute schon über Ethik gesprochen haben und vorhin der Name Kant gefallen ist: Leider kennt man von Immanuel Kant oft nur den kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) oder den praktischen Imperativ („Betrachte den anderen niemals als Mittel, sondern immer als Zweck“) – aber sein eigentlicher Grundsatz der Ethik heißt: Die Glückseligkeit des anderen zu wollen und die eigene Vollkommenheit! Hört man kaum zitiert, nicht?
Klingt aber gut 🙂
Und wenn ich wirklich die Glückseligkeit des anderen will – ich glaube, dann brauche ich den Zusatz „und die eigene Vollkommenheit“ gar nicht mehr. Denn wenn ich das wirklich will …
… dann habe ich wohl schon ein großes Stück Vollkommenheit in mir!
Ja. Aber es ist natürlich sinnvoll, das hinzuzufügen, weil ich ja selber auch immer mich in diesem Prozess verstehen will. Aber jetzt denken Sie an die Schulen – wie offen, wie glücklich könnten Lehrer, Schüler und Eltern sein, wenn jeder dieses Bewusstsein der Förderung des Anderen in sich selber verspüren würde!
Eine schöne Vision! Da würde eine ganz andere Gesinnung in unsere Schulen einkehren. Albert Schweitzer meinte einmal, „das Heil unserer Welt liegt nicht in neuen Maßnahmen, sondern in einer anderen Gesinnung.“ Bei den letzten BildungsministerInnen hatte man aber das Gefühl, es ging nur um die Einführung immer wieder anderer Maßnahmen …
Ja, es bräuchte Visionen. Und vor den Maßnahmen bräuchte es zunächst einmal andere Strukturen …
… die wie beschaffen sein müssten?
Die eben so beschaffen sind, dass sie die Möglichkeit in sich bergen, diese Visionen zu erreichen. Und eine andere Vision möchte ich eigentlich gar nicht, als dass autonome Individuen in freier Auseinandersetzung, im freien Dialog miteinander Strukturen bilden, in denen sie miteinander vielfältige Erfahrungen machen und ihre Potenziale entwickeln können und über die sich etwas bewegen lässt.
Zwei Zitate unseres derzeitigen Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Heinz Faßmann: „Ich war mir bewusst, dass ich nur Akzente setzen kann, nur wenig Freiheiten haben werde“ und „Man ist ein Getriebener, aber ich versuche, nicht im Treibsand zu versinken.“ Wenn jemand dieses Rollenverständnis von sich hat, dann klingt das nicht gerade nach Bewegung, auch nicht nach großen Visionen! Sie haben schon mit so vielen BildungsministerInnen gesprochen – hat jemand von diesen einen letztlich wirklich visionären Plan verfolgt?
Also ich glaube, derjenige, der einen solchen noch am ehesten gehabt hat, war Erhard Busek. Wo müssen wir hinsteuern? Wo müssen wir unsere Energien hinlenken? Für diese Fragen hatte er sich einen Raum gemietet, einen „Think-Tank“, wo er verschiedenste Leute – auch ich war für kurze Zeit mit dabei – um sich gesammelt hat, um gemeinsam visionäre Ideen zum Thema Bildung zu entwerfen. Und da, muss ich sagen, war er eigentlich gut unterwegs, aber wegen der Trägheit des Schulsystems hat er nichts umsetzen können.
Er war aber nur kurz Bildungsminister, nicht?
Ja – beziehungsweise „Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten“, wie die Bezeichnung damals lautete …
Mein nächstes Interview möchte ich gerne mit Herrn Bundesminister Heinz Faßmann führen. Welche zwei oder drei Wünsche, Anregungen oder Gedanken kann ich von Ihnen mit in dieses Gespräch nehmen?
Nun, ich würde diese vielleicht so formulieren:
Lieber Herr Faßmann,
werden Sie sich Ihrer selbst klarer bewusst, was Sie wirklich für SICH und möglicherweise auch – wenn Sie Kinder oder Enkel haben – für Ihre Kinder und Enkel wollen, weil ich glaube, dann würden Sie das, was bildungspolitisch nötig ist, anders bedenken. Sie würden vor allem daran denken, dass Kinder sich sehr individuell entwickeln und dass daher jeder Schüler individuell gesehen werden muss. Dafür brauchen Lehrer ein breites Feld für ihren Unterricht und die Schüler brauchen eine differenzierte Rückmeldung statt einer äußerst ungerechten und auf den Durchschnitt bezogenen Ziffernbenotung. Wie soll ein Schüler Lust auf Lernen bekommen, wenn er nicht um seiner selbst willen angenommen wird?
Und bitte, lieber Herr Faßmann, führen Sie diesen Prozess der Autonomisierung von Schulen weiter, weil das meines Erachtens die einzige Möglichkeit ist, dass unser Schulsystem als Ganzes verbessert wird.
Und bitte, drittens: Lassen Sie es zu, dass viele Orchideen blühen dürfen innerhalb unseres Schulsystems!
Ich werde diese Anregungen und Wünsche gerne mitnehmen 🙂
Solche Orchideen blühen wahrscheinlich gut auf jenen Nährböden, wie sie Janusz Korczak oder Rudolf Steiner gedanklich bereitgestellt haben.
Ja, ich glaube, Janusz Korczak hat wie kein anderer Schriftsteller die Individualität jedes einzelnen Kindes betont. Jede Träne, jedes Lachen ist anders. Es kommt immer auf die ganz einmalige Situation an – und Schule ist das Leben selbst!
Rudolf Steiner betonte wie kein anderer die Erziehung zur Freiheit, die jeder für sich leisten muss und was jeder kann, wenn ihm die Bedingungen dafür – eine anerkennende und wertschätzende Umgebung – bereitgestellt werden. Wollen, Fühlen und Denken müssen aufeinander aufbauend entwickelt werden und Erziehung ist eine Kunst, die je und je neu entwickelt werden muss.
Welcher andere reformpädagogische Ansatz lag Ihnen sonst noch „am Herzen“?
Sehr inspiriert haben mich auch Rebeca und Mauricio Wild. Sie bauen auf Montessori auf, haben aber die Vorstellung, dass Schulen sich ständig reformieren müssen – und dies so, wie es jede am besten kann. Man darf Anleihen machen – aber man muss seine Form finden. Und Freiheit und Autonomie gelten auch hier als wesentliche Voraussetzungen dafür, dass sich gute Schulen entwickeln können.
Mir ging es letztlich immer um die Frage: Wie können wir Lernen, Schule oder Erwachsenenbildung so gestalten, dass jeder bereit ist, nicht das Beste, sondern SEIN Bestes zu geben, sodass jeder sich als selbstwirksam erleben kann.
Eine abschließend letzte Frage: Sie sind so vielen verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen. Bei welchen waren Sie „mit jeder Faser Ihres Herzens“ dabei?
Bei der Arbeit in der Erwachsenenbildung und der Psychotherapie. Diese forderten mich heraus, Menschen dazu anzuleiten, dass sie zu einem klaren Bewusstsein ihrer selbst kommen.
Und in der Arbeit mit Behinderten. Von und mit ihnen habe ich am meisten gelernt. Sie hat mich zur Entwicklung der Theorie der psychischen Funktionen/Operationen geführt, die auch dem „Herzogenburger Lehrplan“ zugrunde liegt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gerne.