„Der Malort ist ein Paradies!“

Interview mit Arno Stern, dem Begründer des „Malortes“

Foto: Gert Lanser

Als Kind musste Arno Stern mit seinen Eltern nach der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland fliehen. Es folgten 13 Jahre der Flucht über Frankreich und Schutz in einem Internierungslager in der Schweiz. Nach Kriegsende kehrte die Familie nach Frankreich zurück und Arno Stern begann, in einem Heim für Kriegswaisen in einem Pariser Vorort zu arbeiten. Sein Auftrag dort lautete, die Kinder zu beschäftigen. Arno Stern ließ sie malen. Aufbauend auf den Beobachtungen, die er dort machte, gründete er Anfang der 1950er Jahren im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés seinen ersten Malort. Seit über 60 Jahren begleitet er nun Kinder beim Malspiel. Rainer Wisiak sprach mit ihm über die Besonderheiten des Malortes und darüber, zu welchen Erkenntnissen man kommen kann, wenn man Kinder frei von Bewertung und Vorgaben malen lässt. 

Herr Stern, als Sie das letzte Mal in Österreich zu Gast waren, hielt Gerald Hüther vor ihrem Vortrag die Festrede. In dieser meinte er, dass es auf der Welt eigentlich gar nicht so viele Probleme gäbe – im Prinzip sogar nur eines: dass wir andere Menschen wie Objekte behandeln, sie zu Objekten unserer Belehrungen oder Erwartungen machen. Der „Malort“ erscheint mir wie ein Gegenentwurf dazu.

Ich sage: der Malort ist ein Paradies! Mit allen Eigenschaften des Paradieses: etwas Unbeschwertes, wo der Mensch nicht einem Druck unterliegt, sondern wo er zu sich selbst kommt. Ein Ort, an dem es keine Kontraste gibt – bei dieser Wortwahl beziehe ich mich auf den französischen Embryologen Jean-Marie Delasuss, der eigentlich weniger bekannt ist, als er es verdient hätte und von dem leider kein einziges Buch ins Deutsche übersetzt worden ist. Er sprach von der vorgeburtlichen Zeit und sagte, es sei eine homogene Periode im Leben, eine einheitliche, ohne Kontraste.

Sobald aber das Kind auf die Welt kommt, tritt es in eine binäre Welt ein – mit Kontrasten wie warm-kalt, hell-dunkel usw. Das alles gab es in der vorgeburtlichen Zeit nicht. Mit der Geburt wird das Kind aus dieser Geborgenheit hinausgedrängt und stürzt in diese gegensätzliche Welt – ähnlich dem Paradies in der Bibel, aus dem der frevelhafte Mensch vertrieben worden ist und wohin er sich letztlich immer zurücksehnt.

Und der Malort erfüllt genau das, wonach sich jeder Mensch sehnt: hier gibt es keine Gegensätze, hier gibt es keine Forderungen, hier gibt es keinen Druck, hier gibt es keine Erwartungen, keine Verpflichtungen – der Mensch kommt hier zu sich selbst. Er erlebt sich als Person, nicht als Objekt, sondern als Subjekt – genau das, was Gerald Hüther sagte, geschieht hier, ist hier üblich, ist eigentlich die Eigenschaft oder die Eigenart des Malspiels an diesem geborgenen Ort.

Welche Eigenschaften würden Sie dem Malort noch zukommen lassen?

Für die Menschen, die hier malen, ist es auch ein Ort der Beständigkeit. Es ist im Malort nicht wie anderswo, wie in der veränderlichen Welt, in der wir leben, in der wir immer zu etwas Neuem herausgefordert werden, weil sich die Welt eben immer verändert. Und natürlich ist es am Morgen nicht so wie am Abend, zu Mittag nicht so wie in der Nacht und im Frühling nicht so wie im Herbst. Wir leben in einer sich verändernden Welt, in einem sich verändernden Alltag. Aber der Malort, abgesondert von allem Veränderlichen – er ist ein Ort der Beständigkeit.

An welchem Sie den dort Malenden in einer „dienenden“ Rolle begegnen …

Ja, denn im Malort bin ich nämlich kein „Leiter“ oder „Meister“, der andere führt, der anderen etwas beibringt, der anderen etwas vermittelt. Meine Rolle dort besteht im „Dienen“. Das ist etwas, das bis dahin ja noch gar nicht erprobt war, denn es gab nur zwei Dienste, die gesellschaftlich geschätzt wurden: den Gottesdienst und den Militärdienst – das war und ist gut angesehen. Dass man aber auch auf eine andere Weise, auf eine viel wichtigere und wesentlichere Weise dienen kann, das ist unerprobt gewesen … und dann eben Teil der Struktur des Malspiels geworden.

Die Struktur ist ein sehr wesentliches Element im Malspiel. Sie können als Beispiel den Pinsel hernehmen, der zu einem ernsthaften Umgang einlädt. Man nimmt den Pinsel nicht irgendwie in die Hand, weil es nicht irgendein Pinsel ist, sondern weil es ein ausgewählter, guter Pinsel ist, der wertvoll ist und dem Kind als ein wertvoller Gegenstand erscheint. Das Kind hat Spaß, einen solchen kostbaren Pinsel in die Hand zu nehmen und geht sorgfältig damit um. Ich lege großen Wert auf diese Struktur, denn diese Struktur ist die Grundlage der Freiheit, andernfalls ist es nämlich Chaos – und Chaos ist nicht Freiheit. Chaos ist Nachlässigkeit und macht eigentlich niemandem Spaß.

Kinder brauchen eine Struktur, Kinder brauchen etwas, das sie ernst nehmen können, das ihnen wertvoll ist – und das Malspiel bietet ihnen das auf jeden Fall vom allerersten Augenblick an an. Ich biete sozusagen ein Ritual an. Was heißt das – ein „Ritual“? Für mich ist es nicht etwas, das einschränkt, sondern etwas, das dem Spiel einen Ernst verleiht. Wenn ein Kind in den Malort kommt, nimmt es ein Blatt, trägt es zur Wand und ICH stecke die Reißnägel in die beiden oberen Ecken – das ist das Ritual! Anders könnte es auch sein, aber so ist es eingeführt worden und für das Kind ist es etwas sehr Beruhigendes, dass es so geschieht, dass es keine Veränderung gibt, dass es immer so ist.

Wenn Kindern nun in dem vorhin genannten Sinne ermöglicht wird, frei von Bewertung und Vorgaben zu malen, geschieht es, dass sie, wie Sie es nennen, „eine Spur entstehen lassen“ …

Unter den vorhin genannten Bedingungen und unter diesem Schutz kann der Mensch eine Spur entstehen lassen – ohne Ziel und ohne die Absicht, etwas zu vermitteln! Es entsteht, es „ent-fließt“ ihm eine Spur. Was aber meine ich mit „ohne Absicht etwas zu vermitteln“?

In der Geschichte der Menschheit haben diese immer Spuren hinterlassen. Manche sind überliefert worden, vieles ging verloren, weil es auf Holz oder anderen nicht haltbaren Materialien gemacht wurde. Schon vor 30.000 Jahren haben Menschen Spuren erzeugt – um anderen etwas zu vermitteln, um anderen etwas zu zeigen. Das Wort „zeichnen“ ist für mich ein sehr wichtiger Begriff, denn „zeichnen“ heißt „zeigen“ – und zeigen heißt, JEMANDEM etwas zeigen, heißt also: mit jemandem eine Verbindung anzustreben, um ihm etwas zu vermitteln. So ist es seit je her und überall in allen Kulturen gewesen.

Und nun entstand der Malort – und da war etwas möglich, obwohl es von mir gar nicht beabsichtigt war, aber es hat sich so ergeben: Ich habe wahrgenommen und festgestellt, dass unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen der Mensch eine Spur entstehen lässt, die NICHT der Vermittlung dient. Und dem bin ich nachgegangen, viele viele Jahre lang. Über 50 Jahre hinweg bin ich diesem Geschehen alltäglich begegnet, habe es erforscht und entdeckt, was der Ursprung dieser Spur ist.

Wie hat sich dieses Bemühen darum, Kinder unter anderen Bedingungen malen zu lassen, entwickelt – und welches waren die Erkenntnisse, die Sie daraus gewonnen haben?

Da muss ich etwas ausholen – denn wie hat man vor der Zeit des Malortes gedacht? Man hat früher gedacht, Kinder malen, um uns Erwachsenen etwas mitzuteilen. Das war die allgemeine Einstellung. Man glaubte, die Spur müsse der Vermittlung einer Botschaft dienen und konnte sich gar nicht vorstellen, dass das Kind nur zu seinem Vergnügen spielte. Und man ist zudem von einem ganz miserablen Ausgangspunkt ausgegangen: man glaubte, Kinder sähen nicht richtig und man müsse ihnen als eine erste Stufe das Sehvermögen beibringen – und als Folge davon die richtige Weise, das Betrachtete wiederzugeben. Darauf war der Zeichenunterricht begründet und damit hat man Kinder jahrzehntelang gequält. Ich habe es als Kind erlebt, dass man ein Blatt nachzeichnen musste oder irgendeinen anderen Gegenstand. Es kam darauf an, etwas sichtbar zu machen, etwas wiederzugeben. Aber gut, das war eben die allgemeine Auffassung. Man glaubte, das Kind müsse aufnehmen – und wiedergeben. Also Ausdruck sei die Folge von Eindruck. Das klingt sehr schön, ist ja fast poetisch – aber es stimmt überhaupt nicht! Jedenfalls ist es nur eine – wie soll ich sagen – eine sehr oberflächliche Eigenschaft der Spur, etwas wiederzugeben. Aber das Wesentliche kommt ja nicht daher – es hat einen ganz anderen, einen ganz tieferen Ursprung. Aber darauf ist niemand gekommen.

In einem Ihrer Bücher schrieben Sie, Sie konnten eine ganz andere Sichtweise der Dinge nur einnehmen, diesen tieferen Ursprung nur ergründen, weil Sie dem Malspiel der Kinder „vorurteilsfrei“ begegnen konnten …

Ja, denn welche Menschen hatten sich bis dahin Gedanken um die Spur des Kindes gemacht? Es waren Menschen, die aus dem Bereich der Kunst gekommen sind, aus der Psychologie, aus der Philosophie … Menschen, die von irgendwo her gekommen sind und ihre Erfahrungen und Erwartungen mitbrachten. Sie hatten keinen freien Blick, sie begegneten nicht der Spur des Kindes, sondern sie drängten ihre Vorstellungen und Erwartungen in die Spur des Kindes.

Ich konnte den Kindern vorurteilsfrei begegnen, weil ich von nirgendwoher gekommen bin. Als ich den Kindern begegnet bin, kam ich aus einem Arbeitslager in der Schweiz, wo ich drei Jahre lang interniert war. Das war die Zeit, in der ich üblicherweise hätte studieren sollen oder können oder müssen. Das war mir erspart geblieben und als ich nach Frankreich zurückkehrte – ohne Auszeichnung, ohne Orientierung – und mir eine Stelle in einem Kinderheim für Kriegswaisen angeboten wurde, konnte ich die ganz unbefangen annehmen und bin Kindern dort begegnet. Das war entscheidend für mich: die Begegnung! Das ist heute noch so – ich begegne den Kindern noch heute genau so unbelastet, genau so frisch wie damals 1947 oder 48.

Und das Erste, das mir bei den Kindern damals auffiel, war: dass man ihnen gar nichts beizubringen habe, sondern dass sie alles in sich haben. Man muss ihnen nur die Möglichkeit bieten zu diesem Spiel. Meine ersten Erfahrungen und Erkenntnisse beruhten aber auch auf der besonderen Situation im Kinderheim …

Wie könnte man diese in wenigen Sätzen beschreiben?

Die Kinder waren Kriegswaisen, die während der deutschen Besatzung in Frankreich bei Bauern auf dem Land oder in Klöstern versteckt wurden, ihre Eltern deportiert … Nach dem Krieg erschienen diese Kinder, wurden dann möglicherweise auf Pflegefamilien aufgeteilt oder in Heimen aufgenommen. Meine Begegnung mit diesen Kindern war deshalb eine außergewöhnliche, weil es Kinder waren, die nie in eine Schule gegangen sind und deshalb in manchen Bereichen vollkommen „unbelastet“ waren.

Das Heim ist dann aufgelöst worden, aber mein Wunsch war natürlich, dass ich das, was ich dort erlebt hatte, weiterhin erleben konnte. Aus diesem Grunde habe ich dann in Paris den ersten Malort eröffnet. Dort ist mir dann aufgefallen – schon sehr früh – dass Kinder Dinge alle auf gleiche Weise darstellen. Alle Kinder stellen ein Haus auf die gleiche Weise dar – mit einem dreieckigen Dach über einer viereckigen Mauer, mit zwei Fenstern und einem Schornstein. Aber die Kinder haben in Paris gar nicht in solchen Häusern gewohnt. So ist mir klargeworden, dass das Kind nicht wiedergab, was es aufnahm. Und dann wusste ich, dass diese Spur einen älteren Ursprung hat – und dem bin ich nachgegangen. Und je weiter ich diese Spur verfolgt habe, desto mehr entfernte sie sich in die Vergangenheit.

Heute weiß ich, was der Ursprung dieser Spur ist: Der Ursprung ist die organische Erinnerung. Das habe ich schon vor 40 Jahren in einem Buch veröffentlicht – auf Französisch allerdings – und damals schon erzählt, dass es eine organische Erinnerung gibt. Heute – seit kurzer Zeit erst – hat die Gehirnforschung bewiesen, dass es in den Zellen des Menschen eine Speicherung gibt. Das ist genau das, was ich organische Erinnerung nannte – da gibt es eine Erinnerung in den Zellen. Ich mache aber bewusst einen Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis, zwei Benennungen, die oft miteinander verwechselt werden. Während Gedächtnis von „nachdenken“ kommt, heißt „erinnern“: in sein Inneres eindringen. Und ich frage alle Menschen, denen ich begegne: Wie weit reicht ihr Gedächtnis zurück? Die meisten sagen dann: bis zum 4. Lebensjahr! Das bedeutet, dass wir darüber hinaus keine Möglichkeit haben, mit dem Gedächtnis das zu beleben, was wir in den ersten drei Jahren nach der Geburt erlebt haben.

In einem anderen Interview meinten Sie einmal: „Sind wir nicht alle wie ein Buch, aus dem die ersten Seiten herausgerissen wurden“? 

Ganz genau – so ist es doch. Weil die Aufspeicherungen dieser frühen Erfahrungen sich dem Verstand entziehen, können sie nicht zu Worten werden. Wenn man aber das Malspiel erlebt, dann kann man den Weg zurück zu diesem Anfang finden, dann wird es zu einer Ergänzung für alles Fehlende. Und wenn die aus der organischen Erinnerung eigentümlichen Gebilde im Malspiel ihren Ausdruck finden können, ist dies für die Menschen im Malort eine besonders beglückende Begebenheit – ja, es bedeutet, dass wir dadurch in Erfüllung gegangen sind.

Sie haben ja festgestellt, dass alle Kinder, sofern man sie frei von Bewertung und Vorgaben malen lässt – weltweit! – ganz ähnliche Gebilde entstehen lassen. Sie durchlaufen eine Entwicklung von den „Giruli“ oder „Punktili“ über die „Erstfiguren“ und „Trazate“ zu den „Hauptfiguren“ – von Ihnen eingeführte Begriffe, die Ihnen halfen, so etwas wie einen Stammbaum dieser Entwicklung zu beschreiben. Man gewinnt den Eindruck, dass uns Menschen diesbezüglich ein genetisches Programm innewohnt.

So ist es. Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre bin ich nach Mexiko, Mauretanien, Peru, Äthiopien, Guatemala, Afghanistan, Niger und Neuguinea gereist. Ich habe dort im Urwald und in der Wüste Kinder, die keine Schule besucht hatten, malen lassen – und da erlebte ich genau wieder, was ich viele Jahre zuvor im Kinderheim erlebt hatte. In meinem Archiv habe ich inzwischen an die 500.000 Dokumente systematisiert gespeichert – sie belegen, dass sie als Bestandteile eines Codes einem geordneten Gesamtablauf angehören, den ich heute die „Formulation“ nenne.

Die dritte vergleichbare Begegnung habe ich bei meinen eigenen Kindern und deren beiden Cousinen gemacht, denen ebenfalls allen die Schule erspart geblieben ist.

Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie kein großer Freund der Schule sind?

Was soll ich sagen? Nehmen Sie zum Beispiel die Kunsterziehung in der Schule: da wird in der einen Woche gemalt, in der nächsten graviert, einmal – was weiß ich – wird modelliert, dann gebaut … es finden immer neue Angebote statt. Das Kind wird von einer Technik in die andere geschoben, es vertieft sich nie in etwas, sondern muss immer etwas Neues erproben.

Schauen Sie – ich kann Folgendes belegen: wenn in den Jahren zwischen 1950 und 1980 ein Kind in den Malort kam, dann hat es sofort ein Papier genommen, hat sofort einen Pinsel ergriffen und hat angefangen zu spielen, hat sich im Raume des Blattes eine Welt nach Maß angelegt, seine eigene Welt erlebt, im Spiel. Wenn ein Kind heute in den Malort kommt, nimmt es auch ein Blatt – was anderes kann man hier ja nicht tun in diesem geschützten Raum – und wenn das Blatt an der Wand hängt, dann steht das Kind vor dem Blatt und wissen Sie, was es sagt? „Was soll ich tun?“ Eine solche Frage hätte ein Kind in der Blütezeit der Formulation keinesfalls gestellt. Das war so selbstverständlich, so unwiderstehlich, dass man da sofort zugriff und spielte … und heute ist das Kind vollkommen gelähmt.

Und wenn ich ihm dann natürlich keine Anweisungen erteile, sondern warte, was geschieht, dann schaut das Kind, was andere tun, nimmt auch einen Pinsel, taucht ihn ein, macht einen roten Strich – und überlegt: welche Farbe passt zu dem Rot? Das ist die Kunsterziehung, die man dem Kind auferlegt hat, weil man den Kindern Farblehre, Harmonie- oder Kompositionsgesetze beigebracht hat. Tja, dann kann das Kind nicht mehr spielen, es ist nicht mehr spontan, sondern löst Probleme. Und dann macht das Kind noch einen grünen Strich daneben und ein paar Flecken und sagt: „Ich bin fertig.“ Mehr kann es nicht. So gelähmt sind Kinder heute.

Viele Kinder und Jugendliche konsumieren heute Medien im Ausmaß von mehr als 50 Wochenstunden – ist das nicht ein viel lähmenderer Faktor? 

Natürlich trägt vieles dazu bei. Das beginnt schon damit, was man Kindern als Vorlagen anbietet: Wenn Sie heute ein kleines Auto für ein Kind kaufen, dann ist da schon ein Gesicht drauf – als ob ein Auto ein Gesicht hätte! Auf Kopfkissen in den Kinderzimmern findet man fürchterlich verzerrte Figuren mit langen Ohren und langen Zähnen – und da soll ein Kind ruhig einschlafen, wenn sein Kopf auf einem solchen Monster liegt?

Und natürlich sind die Medien dazugekommen. Aber diese sind ja eingebettet in die ganze Lebensweise der Familie – und die ist heute natürlich ganz anders als vor dreißig oder vierzig Jahren, ganz klar. Viele Familien haben gar keinen Familiensinn mehr. Die Eltern fahren in Frankreich – zumindest in der Stadt ist es so – am Morgen in die Arbeit, das Kind wird in der Schule abgegeben und am Abend treffen sie wieder zusammen und teilen ihre Müdigkeit. Das ist der Alltag der meisten Kinder. Ich meine, das ist doch bedauerlich, dass Kinder von ihren Eltern so wenig wissen und so wenig mit ihnen teilen …

Wie teilt man sich im Malort den anderen mit?

Im Malort sind 15 Menschen verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft miteinander vereint und teilen diesen Ort, teilen sich dieses Instrument in der Mitte des Raumes – weil ja nicht jeder Mensch seinen eigenen Pinsel und seine eigene Palette mitbringt. Man kommt hier mit leeren Händen in den Raum, wie man ihn auch mit leeren Händen wieder verlässt.

In der Mitte des Raumes ist also der Ort, wo man mit anderen etwas teilt – und sobald man zu seinem Blatt geht, ist man in seinem eigenen Territorium. Das ist der Raum des eigenen Erlebens – deshalb sage ich: das Kind legt sich eine Welt nach Maß an in diesem Raum. Und dieses Gleichgewicht, dieses Hin- und Herschwanken zwischen Gemeinsamem und Persönlichem, das ist so perfekt im Malspiel. Und die Folge davon ist, dass sich der Mensch verändert. Er macht hier nämlich eine doppelte Erfahrung: sich selbst uneingeschränkt zu erleben inmitten anderer. Er kann im Malort also etwas Außergewöhnliches erleben: dass der Raum wächst, um ihn herum, inmitten anderer – und nicht auf Kosten anderer.

Und das überträgt sich auf den Alltag. Daraus entsteht eine Lebenseinstellung, eine Haltung anderen gegenüber. Menschen, die in den Malort kommen, haben ein anderes Verhalten anderen gegenüber: sie begegnen anderen furchtlos, sie schützen sich nicht, sie riegeln sich nicht ab, sie haben einen Zugang zu den anderen. Und ich sage: Wenn man an eine zukünftige Gesellschaftsordnung denkt, dann kann man sich den Malort zum Beispiel nehmen.

Ich komme auch immer wieder mit Menschen zusammen, die einst bei mir gemalt haben – und alle sagen das Gleiche, als ob sie es auswendig gelernt hätten: „Es sind die schönsten Stunden meiner Kindheit gewesen!“ Und manche fügen hinzu: „Es war entscheidend für mein ganzes Leben.“

Zu der Zeit, als Sie in der Schweiz interniert waren, war auch Heinrich Jacoby in der Schweiz im Exil. Haben Sie schon einmal etwas von ihm gehört?

Damals nicht, später natürlich schon.

Ich erwähne ihn, weil er im musischen und motorischen Bereich zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen ist wie Sie. So wie Sie vom „belasteten“ Kind sprechen, spricht er vom „verstörten“ Kind, wenn dessen natürliche Entwicklung in irgendeiner Weise unterbrochen worden ist. Und er spricht davon, dass im späteren Leben eine „Nach-Entfaltung“ möglich ist, dass es belasteten oder verstörten Kindern möglich ist, wieder ein Stück heil zu werden …

Ich glaube, wenn ein Kind regelmäßig in den Malort kommt, immer wieder, jede Woche, monatelang – dann findet dieses Kind den Weg zurück zu sich selbst, zu seiner Spielfähigkeit und wird wieder wie die Kinder, denen ich so zahlreich zwischen 1950 und 1980 begegnet bin. Beim Begriff der „Heilung“ bin ich sehr vorsichtig, weil es ja auch eine „Kunsttherapie“ gibt – und damit möchte ich keinesfalls verwechselt werden.

Welchen Menschen fühlen Sie sich gedanklich sehr nahe?

Ich habe einen Schulfreund, der ist Pianist geworden – Jacques Greys. Er hat in der Musik vieles erneuert und ich würde sagen, wir sind uns in allem einig.

Und er kam – ich denke, es muss um 1960 herum gewesen sein – zu mir und sagte: Meine Frau hat mir ein Buch gebracht und es geht uns so nah, dass ich möchte, dass wir es gemeinsam lesen – und das war „De l´education“ von Jiddu Krishnamurti. Wir haben das gelesen und jedem Satz zugestimmt. Ich habe es bedauert, dass ich Krishnamurti nie persönlich begegnen konnte, denn nachdem, was er geschrieben und gesagt hat, kann ich mir vorstellen, dass der Malort ein Ort ist, der seinen Vorstellungen und seiner Philosophie entsprochen hätte.

Und sonst lehne ich sehr vieles ab oder besser: es gibt Weniges, dem ich wirklich absolut zustimme.

Fertige Konzepte und -ismen bergen ja auch immer eine gewisse Gefahr in sich. Was zu tun wäre wichtig, dass die Idee des Malortes lebendig bleibt und nicht zu einem starren System wird?

Ich werde oft gefragt, ob die Forschung an der Formulation weiter gehen könne. Dazu kann ich heute sagen: ich kann beweisen, dass die Formulation ein perfektes System bildet, dass es etwas Erklärbares ist in allen seinen Abläufen, in allen seinen Bestandteilen – und es bedarf keiner Ergänzung, ABER:

Es müssen Verbindungen hergestellt werden zwischen der Formulation, also zwischen dieser Wissenschaft, in der die Formulation erschienen ist und anderen Bereichen. Ich denke da an die Neurobiologie, ich denke an die Geschichte, ich denke sogar an die Theologie. Es gibt viele Bereiche, zu denen Brücken geschlagen werden müssen, weil es zu einer gegenseitigen Bereicherung führen kann. Das ist eigentlich die zukünftige Aufgabe!

Vielen Dank für das Gespräch.

Gerne.