Lasst uns Fehler machen!

Ein kleiner Spaziergang durch die Reformpädagogik

erschienen im TAU – magazin für barfußpolitik, Heft 13

Foto: Heinrich Jacoby, 1934 in Zürich. Verwendung des Fotos mit Genehmigung der Heinrich Jacoby-Elsa Gindler-Stiftung, Berlin. Vielen Dank!

In einem Vortrag, den Maria Montessori 1945 in ihrem Exil in Indien hielt, finden sich folgende Worte: „Wonach suchen wir denn wirklich im Kind? Fast immer sind wir auf der Ausschau nach Fehlern – nicht nur nach denen, die es gemacht hat, sondern auch nach denen, die es machen könnte.“ Später führt sie aus: „Das Einzige, was wir wirklich tun müssen, ist, unsere Grundhaltung gegenüber dem Kind zu ändern und es zu lieben mit einer Liebe, die an seine Persönlichkeit glaubt und daran, dass es gut ist; die nicht seine Fehler, sondern seine Tugenden sieht, die es nicht unterdrückt, sondern es ermutigt und ihm Freiheit gibt.“¹

Die Forderung, den Blick vorrangig auf die Tugenden, Stärken und Talente der Kinder zu legen, zieht sich wie ein roter Faden durch den reformpädagogischen Diskurs des vergangenen Jahrhunderts. Was aber ist damit gemeint, dem Ausschauhalten nach Fehlern nicht jenen Stellenwert zukommen zu lassen, den wir ihr aktuell zukommen lassen? Heißt das beispielsweise nur, der natürlichen Schreibentwicklung der Kinder von der phonetischen Schreibweise hin zur genormten Rechtschreibung mehr Zeit und Raum zu geben? Oder ginge es letztlich gar darum, den komplexen Prozess des „Fehlermachens“ in den Mittelpunkt allen pädagogischen Handelns zu stellen?

Am eindringlichsten, so scheint es mir, ist Heinrich Jacoby dieser Frage nachgegangen. Ihm war es zeitlebens wichtig, dass in den Schulen nicht „gelernt“, sondern Themen „erarbeitet“ würden, denn:

„Von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen bedeutet `Lernen´, möglichst schnell dazu zu gelangen, möglichst wenig Fehler zu machen bzw. die `richtigen´ Antworten zur Verfügung zu haben. `Erarbeiten´ bedeutet von demselben Standpunkt aus gesehen, das Entgegengesetzte, nämlich: immer am Falschen zu erfahren, entdecken, erarbeiten, was weniger falsch ist, und dadurch nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist. …

Nehmen Sie ein Rätsel: Glauben Sie, dass ein Mensch, dem Sie zuerst die Lösung mitteilen, das Rätsel noch erraten könnte? Er kann dann höchstens feststellen, dass er nun versteht, warum diese Lösung die Lösung des Rätsels ist. Aber um das, was beim Rätselraten reizt und Spaß macht, gerade um dieses produktive Munterwerden, durch das Kinder entfaltet werden, betrügen wir sie, wenn wir Lösungen mitteilen. Ich könnte grob vereinfachend auch sagen, man müsste der jungen Generation alles Kulturgut in Form von Rätseln nahe bringen, um sie zu zwingen, selbst probierend herauszufinden, was jeweils das Richtige ist, wie doch auch wir, wenn wir Spaß an Rätseln haben, mit großer Beharrlichkeit probieren, verwerfen und wieder probieren, bis wir die Lösung gefunden haben.“ ²

Etwas überspitzt formulierte es Heinrich Jacoby einmal so: „Ich wünsche mir oft, dass über dem Eingang zu unseren Schulen stünde: `Hier sollt ihr Spaß am Falschmachen haben!´“

Aber ist das, so frage ich mich, nicht der Lauf des Lebens? Schreiten oder stolpern wir von Erfahrung zu Erfahrung nicht ebenso wie vom Falschen zum weniger Falschen hin zum immer Richtigeren? Und wäre die Liste der Forscher*innen, Entdecker*innen und Künstler*innen nicht eine unendlich lange, die auf diesem Wege zu ihren Erkenntnissen oder Zielen gelangt sind? Wie treffend hat das André Heller in seinem neuesten Buch formuliert, wenn er von seinen Projekten erzählt, „die gelungenen und die schwächeren, auf denen die gelungenen immer aufbauen.“ ³

Und wenn dies nun der Lauf des Lebens ist, um wie viel mehr müssten wir den Kindern zugestehen, was der Montessori-Pädagoge Claus-Dieter Kaul in seinem Buch „Die zehn Wünsche der Kinder“  fordert: Lasst uns Fehler machen!

Ich durfte diesen Sommer ein Interview mit der britischen Verhaltensforscherin Jane Goodall führen. In diesem erzählte sie mir eine Geschichte über das Fehler-machen-Dürfen, die mich sehr berührt hat:

„Einmal, als ich vier Jahre alt war und wir noch in London lebten – wo es nicht sehr viele Tiere gab – nahm mich meine Mutter mit auf einen Urlaub am Bauernhof. Ich erinnere mich an Schweine, Pferde und Hühner, die um den Hof herum pickten. Sie gaben mir eines Tages die Aufgabe, die Hühnereier einzusammeln. Also sammelte ich diese – ganz glücklich – in einem Korb und begann herumzufragen: `Wo kommen denn die Eier raus aus dem Huhn?´ Denn ein so großes Loch konnte ich bei keinem Huhn entdecken. Aber keine der Antworten, die ich erhielt, konnte mich zufriedenstellen.

An was ich mich dann noch ganz lebhaft erinnern kann, war diese eine braune Henne, die im Hühnerhaus verschwand, wo alle ihre Eier legten. Ich dachte wohl: `Ah – sie wird jetzt sicherlich ein Ei legen!´, denn ich bin hinter ihr hergekrochen – was natürlich ein großer Fehler war, denn sie flog mit viel Geschrei und großer Angst wieder aus dem Stall hinaus. Und mein kleines vierjähriges Gehirn muss sich gedacht haben: `Kein Huhn wird in diesem Hühnerhaus ein Ei legen, wenn es Angst davor hat.´

Also ging ich in ein leeres und wartete. Und ich wartete stundenlang. Inzwischen begannen alle, mich zu suchen, denn sie hatten keine Idee, wo ich sein könnte. Als es Abend wurde, rief meine Mutter die Polizei. Sie können sich vorstellen, wie beunruhigt sie inzwischen war – und dennoch: Als sie das aufgeregte und gänzlich mit Stroh bedeckte kleine Mädchen auf das Haus zulaufen sah – anstatt ärgerlich zu werden, setzte sie sich nieder, um sich die Geschichte anzuhören, wie ein Huhn ein Ei legt.

Für mich bedeutet das: So entstehen kleine Wissenschaftler*innen 🙂  Was es dazu benötigt: die Neugier (die jedes Kind hat), Fragen stellen zu können, nicht die gewünschten Antworten zu erhalten, den Entschluss, es selbst rauszufinden, Fehler zu machen, nicht aufzugeben, sich in Geduld zu üben und: Erwachsene wie meine Mutter. Eine andere Mutter hätte diese wissenschaftliche Neugier vielleicht zerstört und ich hätte nie gemacht, was ich später gemacht habe.“       

Literatur:

¹ Montessori, Maria: „Die Macht der Schwachen.“ Herder Verlag, 1989

² Jacoby, Heinrich: „Jenseits von `Begabt´ und `Unbegabt´.“ Hans Christians Verlag, 2004

³ Heller, André: „Uhren gibt es nicht mehr.“ btb Verlag, 2018